Ein Dialogtisch und die soziale Identität

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Kinder beginnen ihre Reise ins Leben, indem sie mit ihren Eltern kommunizieren, also Dialog führen. Gott tritt über die Heiligen Schriften und Seine Propheten in einen Dialog mit den Menschen, die Ihm ihrerseits durch ihre Gebete antworten. Auch der Prophet Muhammad hat – auf unterschiedlichen Ebenen – immer wieder mit seinen Gefährten und den Nichtmuslimen gesprochen, um ihnen seine Botschaft verständlich zu machen. Im Grunde genommen konnten schon Adam und Eva nicht auf Dialog verzichten. Eine Wissenschaft ohne Dialog wäre vielleicht noch vorstellbar. Ganz gewiss nicht vorstellbar wäre hingegen, dass eine solche Wissenschaft auch bis auf die menschliche Gefühlsebene vordringt. Einzig und allein der Dialog ermöglicht eine echte Annäherung an andere Menschen, Sitten und Standpunkte und schafft dadurch überhaupt erst die Voraussetzung für ein halbwegs harmonisches Zusammenleben.

Dialog schenkt uns die Gelegenheit, die Lebens- und Glaubenswelten unserer uns sonst so fremden Mitmenschen kennenzulernen. Dialog bietet Raum für Begegnung und Kommunikation. Dialog entschärft Spannungen. Dialog steht für Frieden in der Gesellschaft und zwischen den Individuen. Dialog sendet Botschaften des Friedens aus. Dialog trägt dazu bei, Vorbehalte auszuräumen und Toleranz in den Bereichen Kunst und Kultur zu entwickeln. Dialog kann Vorurteile abbauen. Und Vorurteile sind die höchsten Mauern zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen. Vorurteile erzeugen ein Klima der Angst. Wenn sie sich schon nicht ganz aus der Welt schaffen lassen, so sollten sie doch durch persönlichen Kontakt, Begegnungen und gegenseitiges Kennenlernen zumindest auf ein Mindestmaß zurechtgestutzt werden. Was ein wenig fundiertes Wissen oder gar Unwissenheit bewirken können, sieht man sehr gut am Beispiel der Kreuzzüge, die gerade auf diesen Faktoren beruhten und so viel Leid und Elend über die Menschen brachten.

Von Natur aus sind wir Menschen soziale Wesen, die gern mit anderen Menschen kommunizieren, die auf die Kontaktaufnahme zu ihren Mitmenschen im Grunde angewiesen sind. Wer sollte also etwas dagegen einzuwenden haben, wenn wir uns unterhalten, Gedankenaustausch betreiben, einander näher kennen lernen und Vereinbarungen treffen? Selbstverständlich niemand, solange sich die Gesprächspartner in einem respektvollen und toleranten Rahmen bewegen. Aus welcher Kultur sie kommen, sollte in diesem Zusammenhang eigentlich völlig egal sein. Gemeinsame Probleme verlangen einfach nach gemeinsamen Lösungen.

Der Begriff interreligiöser oder interkultureller Dialog ist heute in aller Munde, wenngleich unterschiedliche Menschen unterschiedliche Dinge darunter verstehen. Für die einen ist dieser Dialog ein magischer Schlüssel, der verschlossene Türen öffnet, für die anderen ist er mehr so etwas wie ein Zugeständnis. Letztere befinden sich jedoch auf dem Rückzug. Denn die gesellschaftliche Entwicklung zeigt, dass inzwischen viele Gruppierungen und Einzelpersonen alle Voreingenommenheit und Vorurteile fallen gelassen haben und endlich miteinander statt – wie zuvor – immer nur übereinander sprechen.

Zum interreligiösen Dialog gehört viel mehr als der bloße Dialog zwischen den Institutionen Moschee und Kirche. Sicherlich kann für Gespräche eine institutionelle Ebene gewählt werden. Mindestens ebenso effektiv sind aber persönliche Begegnungen zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen. Abgesehen davon müssen Gespräche und Begegnungen auch nicht unbedingt auf einer religiösen ‚Plattform‘ stattfinden. Viel wichtiger ist, dass sich Menschen aus allen Institutionen und Gesellschaftsschichten, die eine gewisse Verantwortung für die Zukunft der Gesellschaft tragen, angesprochen fühlen, aktiv mitzuwirken. Gesprächsthemen gibt es mehr als genug – kulturelle Werte, Religion, soziale Probleme, Erziehung, die Kunst des Zusammenlebens, Wissenschaft, Globalisierung und Digitalisierung, Radikalisierung und Extremismus, Gewalt und Terror – um nur einige wenige zu nennen.

Die nähere Vergangenheit hat gezeigt, dass Dialogbestrebungen von allen Seiten begrüßt und von vielen Seiten forciert wurden. Bedauerlich ist aber, dass dabei kaum gemeinsame Projekte auf die Beine gestellt wurden. Um einige Illusionen ärmer mussten wir erkennen, dass wir uns noch am Anfang eines steinigen Weges befinden. Offenbar geht es zunächst einmal darum, dass wir unsere Dialogpartner kennen lernen, dass wir versuchen, uns in sie hineinzuversetzen. Es wäre wohl zu viel verlangt, würde man erwarten, dass alle Beteiligten sofort gemeinsam an einem Strang ziehen.

Grundsätzlich existiert in Deutschland bereits eine solide Basis, auf der sich Muslime mit anderen Glaubensangehörigen beispielsweise über all die Vorurteile unterhalten können, mit denen der Islam und die Muslime immer wieder konfrontiert sind oder umgekehrt. Dabei geht es uns aber keineswegs darum, ständig nur zu klagen. Nein, man sollte konstruktiv an der Lösung von Problemen mitarbeiten und selbst Teil der Lösungen sein. Schließlich kann man auf einen reichen Schatz an historischen Erfahrungen zurückgreifen, der uns die nötige Reife schenken sollte. Der nachhaltigste Dialog ist m.E. ein Dialog auf geistiger Ebene, so wie Goethe ihn mit Hafis führte.

Setzen wir uns also zusammen und beraten darüber, was man in Zukunft besser machen könnte. Zeigen wir doch einfach Initiative und decken mit aller Aufrichtigkeit einen Tisch des Dialogs! Für eine angenehme Atmosphäre zu sorgen, sollte doch kein Problem sein. Stellen wir unsere Menschlichkeit, Selbstlosigkeit und Gastfreundlichkeit unter Beweis! Empfangen wir unsere Gäste mit aller Herzlichkeit, selbst wenn sie anfangs noch voreingenommen sein sollten! Bemühen wir uns, dass sie gar nicht merken, wie die Zeit vergeht! Ein deutscher Richter sagte vor vielen Jahren beim Symposium ‚Dialog der Kulturen als europäische Chance‘ in Berlin voller Bedauern zu mir: „Warum muss diese Veranstaltung nur jetzt schon zu Ende sein?!“ Genau darum geht es, denn nur wenn uns etwas sehr gut gefällt, vergeht die Zeit wie im Fluge. Wenn es uns darüber hinaus auch noch gelingt, dass unseren Gästen unsere Liebenswürdigkeit und Aufgeschlossenheit im Gedächtnis bleiben, nachdem sich unsere Wege wieder getrennt haben, ist das sehr viel wert.

Ein Dialogtisch muss gar nicht besonders prunkvoll hergerichtet und aufgemacht sein. Er kann schlicht sein wie ein Tisch in einem einfachen Dorf, sollte dafür aber umso mehr Seele und Ehrlichkeit ausstrahlen. Und er sollte jene Aufrichtigkeit und Loyalität verströmen, die für die aufrichtigen Menschen so charakteristisch sind. Dann werden von diesem Tisch auch die Düfte der universellen menschlichen Werte aufsteigen, die sich die vom Christentum geprägten Gesellschaften so sehr herbeisehnen.

Ein guter Dialog besteht also nicht allein aus Gesprächen, sondern hinterlässt bei den Dialogpartnern auch auf andere Weise einen bleibenden Eindruck vom Gegenüber. Wichtig ist, wiewir den Tisch decken und wiees uns gelingt, gemeinsame Standpunkte in den Mittelpunkt zu stellen, sodass sich eine gemeinsame Identität und ein harmonischer Geist bilden. Eine positive Ausstrahlung, Optimismus und jene Seite des Menschen, die die inneren Werte der menschlichen Natur verinnerlicht hat, färben auf die Dialogpartner ab und geben ihnen immer neue Anregungen. Jede Angst ist fehl am Platze. Schließlich geht es um Begegnung und Austausch mit Menschen, die ja unsere Mitmenschen sind.

In den letzten Jahren wurde über den interreligiösen Dialog nicht nur gesprochen, sondern auch viel geschrieben. Welchen Einfluss dieser Dialog aber auf die Dialogpartner und ihre Identität ausübt, blieb leider weitgehend unbeachtet. Das ist sehr schade, denn gerade dies ist der Kernpunkt einer positiven persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Generell baut wohl jeder Dialog auf dem Fundament des gegenseitigen Kennenlernens und Verstehens auf. Allen Erfahrungswerten nach zu urteilen, kann ein Dialog, dessen Fundament brüchig ist, ebenso wenig ertragreich sein wie ein Dialog, dem es an Aufrichtigkeit und Offenheit mangelt. Um unser Gegenüber überhaupt verstehen zu können, müssen wir ihn kennen, und um ihn kennen zu können, müssen wir ihn erst einmal kennen lernen. Dazu bedarf es eines Dialogprozesses. Am Ende dieses Dialogprozesses stehen im Idealfall zwei Partner, die nachvollziehen können, warum ihr Gegenüber so ist, wie er ist, und die sich im Klaren darüber sind, dass sie ihn so akzeptieren müssen, wie er ist. Einfühlungsvermögen und Vertrautheit spielen hier eine entscheidende Rolle.

Der in den letzten Jahren immer schneller werdende soziale Wandel in den europäischen Gesellschaften hat traditionelle Bindungen und Normen stark geschwächt. Der moderne Mensch hat es immer schwerer, einen Lebensraum, eine Nische für sich zu finden. Viele von uns haben ihre Identität verloren. Darunter leiden gerade Jugendliche.

Im Unterschied zu früher wird die Identität inzwischen nicht mehr in erster Linie durch die universellen Werte geprägt, die im Elternhaus und in der Gesellschaft vorgelebt werden, sondern von den Medien und der Konsumgesellschaft, die Werte nach eigenemGutdünken oder sogar Wertlosigkeit propagieren. Dabei sind Werte doch so wichtig – für alle Menschen, aber besonders für diejenigen, die in einer Diaspora, in einer fremden Kulturlandschaft leben. Ein Mangel an Werten erschwert die Identitätsbildung und Identitätsentwicklung, was sehr gut etwa an türkischen Jugendlichen in Deutschland zu beobachten ist.

Im Türkischen wie auch im Deutschen kennen wir die Redewendung „Höre auf dein Gewissen!“ Ich persönlich verstehe darunter, dass der Mensch einen großen Schritt in seiner Entwicklung hin zu einem reifen Wesen machen kann, indem er in einen Dialog tritt – mit seinem eigenen Gewissen, aber auch mit Familienmitgliedern, bekannten, befreundeten und fremden Menschen und nicht zuletzt mit der Natur und seinem Schöpfer. Von einem solchen Dialog und einer sogenannten hybriden Identität geht, dies dürfte hier deutlich geworden sein, eine in jeder Hinsicht positive Wirkung aus. Setzen wir uns also dafür ein, Oasen zu schaffen, auf denen schöne Traditionen, kulturelle Werte und Menschlichkeit gelebt werden.

Muhammet Mertek