Fethullah Gülen ist zweifelsohne eine der umstrittensten Persönlichkeiten der Türkei. Daher muss man mit ihm sehr differenziert umgehen. Nach seinem Tod am 20.10. 2024 im Exil in den USA ist noch einmal sehr deutlich geworden, dass es zwei Hauptlager gibt, die ihn ganz entgegengesetzt bewerten:
In dem einen Lager wird Gülen mit menschenverachtenden Zuschreibungen jeder Art regelrecht dämonisiert und als Feind gesehen. Zu diesem Lager gehört die Mehrheit der türkischen Gesellschaft in ihrer ganzen Breite. Eine so hasserfüllte und niveaulose Kampagne hat es nach Meinung zahlreicher Beobachter in der türkischen Geschichte noch nicht gegeben. In ihr wird Gülen nur noch als ein Verräter oder Terrorist sowie als der gefährlichste Religions- und Staatsfeind überhaupt angesehen.
Zu dem anderen Lager gehören diejenigen, die sich mit der Gülen-Bewegung identifizieren oder ihr nahestehen. Für sie ist Gülen ein besonderer Denker und Gelehrter in jeder Hinsicht, ein Gottesfreund und Liebhaber des Propheten Muhammad sowie eine führende Person der islamischen Gelehrtentradition. Weiterhin gilt er für diese Anhänger und Sympathisanten als beispielloser Redner und Aktionsmensch, der sich dem Islam gewidmet hat, und als ein Friedensstifter, den die Welt braucht.
Es gibt in der Mitte noch eine kleine, Erdogan gegenüber kritische Gruppe von Menschen, die mit einigen Vorbehalten das Wirken Gülens in der Türkei und weltweit wertschätzt und versucht, ihn rationaler und ausgewogener zu beurteilen.
Auf diesem Hintergrund stellen sich einige Fragen: Was hat Gülen überhaupt geleistet und nicht geleistet? Wie hat er seine Bewegung im Lauf der Zeit strukturiert? Hat er für seine Gemeinde tatsächlich Verantwortung übernommen? Es gibt sehr viele offene Fragen, deren genaue und differenzierte Beantwortung noch aussteht.
Es gibt genügend Bücher aus erster und zweiter Hand und in mehreren Sprachen über Gülen, die man lesen kann, um sich ein eigenes Bild zu machen. Hier eine kurze Zusammenfassung zentraler Daten und Fakten seines Lebens und Wirkens: Er beginnt schon in den 1970er Jahren als Wanderprediger seine Gemeinde aufzubauen. Nach dem Militärpusch im Jahr 1980 wird er gesucht. Die Video-Aufzeichnungen seiner Reden an bestimmten Orten wurden u.a. von vielen Studenten in den Lichthäusern gehört. Erstmals konnte er wieder im Jahr 1986 in der Çamlıca-Moschee in Istanbul öffentlich eine Predigt halten. Tausenden von Studierenden aus vielen Großstädten fuhren dorthin, um dieses Idol selbst zu sehen und ihm zuzuhören. Seine Rhetorik begeisterte besonders die jungen Menschen aus Anatolien, die ihn als den Retter in ihrer Zeit ansahen. Die Gemeinde wuchs wie ein Schneeball und die neu eröffneten Lichthäuser wurden von Jahr zu Jahr mehr. Die Anhänger nahmen Said Nursi und Gülen als hervorragende Repräsentanten und Förderer muslimischer Identität und als Denker des Islams in diesem Jahrhundert wahr.
Zu dem Wirkungskreis der Bewegung gehörten Schulen, Universitäten, Nachhilfekurse, Kulturlokale, Krankenhäuser, Unternehmen sowie einflussreiche Medien wie Zeitungen, Fernsehsender, Radios und Zeitschriften. In den 1990er Jahren schuf die Bewegung, die sich ins Ausland, in erster Linie in mittelasiatische Länder, ausdehnte, neue Synergien und schritt schnell auf dem Weg zu einem globalen Akteur voran. Gülen gelang es auch, das intellektuelle Potenzial aus allen Teilen der Gesellschaft zu mobilisieren, wie zum Beispiel mit der Abant-Plattform. Die vielfältigen Aktivitäten waren zum Teil richtungsweisend für die ganze Türkei. In allen Teilen des Landes und im Ausland entstanden Institutionen und Unternehmen. So wurden z.B. die Flüge von THY durch diese Infrastruktur geprägt.
Die Zeitung „Zaman“ baute mit den verschenkten Büchern an ihre Abonnenten Bibliotheken in Millionen von Haushalten auf und motivierte die Menschen zu lesen und sich weiterzubilden. Hunderttausende junger Menschen aus sozial und kulturell benachteiligten Regionen studierten in Metropolen und übernahmen im Anschluss daran wichtige Aufgaben in Staat und Gesellschaft. Bis zum Militärputsch am 28. Februar 1997 arbeitete eine wirklich engagierte Generation unermüdlich und widmete einen Großteil ihrer Zeit aufrichtig einem Ideal. Dieses Ideal wurde durch die leidenschaftlichen und emotional ansprechenden Gespräche, Predigten und Schriften von Gülen vermittelt. Sein charismatisches Führungsprofil vereinte Wissen und Rhetorik in sich. Er war beeindruckend. Im Jahr 1994 versammelte er bei der Gründung der „Stiftung für Journalisten und Schriftsteller“ im Hotel Dedeman in Istanbul viele Persönlichkeiten aus prominenten Milieus, Akademie, Kunst und Kultur. Er warb in flammenden Reden für gesellschaftliche Einheit und Dialog, sowohl im In- als auch im Ausland.
Sein Einfluss auf alle gesellschaftlichen Schichten bedeutete eine der weitreichendsten Veränderungen in der jüngsten Geschichte der Türkei. Es wäre ungerecht, seinen Anteil an der sozioökonomischen und kulturellen Dynamik, die die Türkei im Inland erreichte, sowie seinen Beitrag zum Image der Türkei im Ausland und zu ihrer Öffnung für die Welt nicht anzuerkennen.
Gülen spielte also als ein Vertreter der islamisch-sunnitischen Tradition eine wichtige Rolle für den gesellschaftlichen Wandel in der Türkei. Er wirkte geradezu revolutionär. Das muss man zugeben. Auf der anderen Seite bleibt zugleich vieles, was er gesagt und getan hat, frag- und kritikwürdig.
Gülen dankte zum Beispiel dem General Kenan Evren, der Anführer des Militärputsches 1980 war, für die Einführung von Religions- und Ethikunterricht an Schulen als Pflichtfach und sagte, dass er nur deswegen unter Umständen mit dem Paradies belohnt werde. Es wäre jedoch eher wünschenswert gewesen, dass Gülen ihm nicht deswegen, sondern für die Wiedereinführung der Demokratie 1983 gedankt hätte.
Gülen äußerte sich bei der Gründungsveranstaltung der Stiftung für Journalisten und Schriftsteller (1994) sehr klar und mutig: „Es gibt kein Zurück mehr von der Demokratie!“ Wünschenswert wäre es aber auch gewesen, dass er nach dieser klaren und mutigen Aussage ebenso seiner Gemeinde eine demokratischere Struktur gegeben hätte.
Weiterhin wäre wünschenswert gewesen, dass er – wie in der Anfangszeit – anstelle eines machtorientierten Ansatzes einen humanistischen Fokus bewahrt, und die Personen in den hierarchischen Gremien dementsprechend ausgewählt hätte. Einige Personen in Leitungspositionen, die Fehler in bestimmten nicht transparenten Bereichen begangen haben, wurden dafür noch nicht einmal zur Rechenschaft gezogen.
Schließlich wäre auch sehr wichtig und notwendig gewesen, dass Gülen vor seinem Tod zu den Ereignissen des Putschversuches am 15. Juli 2016 und danach Erklärungen abgegeben hätte, die zur Lösung des Problems hätten beitragen können. Denn die in Folge des Putsches getroffenen Maßnahmen zerstörten das Leben von Millionen von Menschen und führten das Land mit all seinen Institutionen in vielerlei Hinsicht in den Abgrund. Gülen hätte die moralische Pflicht gehabt, die Geschehnisse am 15. Juli mit offenem Herzen darzulegen und, wenn nötig, dadurch sich selbst und einige seiner Leute zu opfern, dafür aber viele andere zu entlasten. Denn die Erdogan-Regierung hat gleich nach dem Putschversuch Tausenden von Akademikern, Juristen, Lehrern und Menschen in anderen staatlichen Ämtern durch ein Dekret entlassen. Gegen Millionen von Menschen wird unter dem Verdacht „Terrorist“ zu sein ermittelt und das ganze Vermögen der Bewegung in Milliarden Höhe wurde enteignet. Viele Anhänger, von denen die meisten gebildete Menschen sind, wurden verhaftet und viele mussten ihre Heimat verlassen. Eine große Anzahl von ihnen lebt jetzt im Exil, eine ganze Reihe sind bei der Flucht verstorben oder haben Selbstmord begangen.
Mit dem Tod von Fethullah Gülen wurde auch deutlich, dass er und seine Bewegung mehrheitlich und fast ausschließlich zum Gegenstand immenser Beleidigungen, Hass und Beschimpfungen geworden sind. Es scheint, dass die Gülen-Bewegung ihre gesellschaftliche Legitimität in der Türkei vollständig verloren hat. Die Verantwortlichen der Bewegung müssen sich intensiv mit dieser Tatsache auseinandersetzen und die historische Entwicklung kritisch aufarbeiten, bevor sie ihren Gründer und die Geschehnisse nur Gott überlassen. Die Wiederherstellung gesellschaftlicher Legitimität ist eine schwierige, aber unabdingbare Aufgabe, der sich die Bewegung mit ganzer Kraft stellen sollte.