Ein aktueller Beitrag, den Martin Kämpchen INTR°A zugedacht hat. Er weist u.a. Bezüge zur gegenwärtigen Eskalation im Nahen Osten auf, mit der Botschaft: Juden, Christen und Muslime könnten auch anders miteinander umgehen, wie es in Indien – zumindest zeitweise – der Fall war. (INTR°A, Oktober 2024)
Die jüdische Gemeinde in Kalkutta stirbt aus
von Martin Kämpchen
Haldiram ist eine jener supermodernen architektonischen Großtaten im Süden Kalkuttas, mit denen die Metropole den Anschluss an Bangalore, Delhi und Bombay schaffen will: In den oberen Stockwerken ein Supermarkt, unten hinter einer getönten Riesenglasfassade ein Coffeeshop, in dem es etwa so gemütlich ist wie in einem Dom. Quäkige Hindifilmmusik plätschert auf uns herunter. Frau Aline Cohen, eine der aktivsten Mitglieder der jüdischen Gemeinde, sitzt mir gegenüber. „Wir haben weniger als 20 bis 25 Juden in Kalkutta“, sagt sie, „mehr nicht. Die Mehrzahl ist über siebzig und achtzig, einige sind sogar neunzig und drüber.“ Jo (wie alle Aline Cohen nennen) selbst ist über sechzig, modern gekleidet, hat kurzes Haar nach europäischem Stil und dezentes Makeup. An ihrem selbstsicheren Auftreten und fließenden Englisch erkennt man die Chefsekretärin eines multinationalen Konzerns, die sie bis vor kurzem gewesen ist. Gerade ist sie von einer Weltreise zurückgekehrt: London, die USA, danach Israel. Überall gibt es Verwandtschaft, ihre Kinder wohnen in England und Israel.
Während vor der Glasscheibe das bunte, ungestüme, vielköpfige Leben Kalkuttas vorübertreibt, sprechen wir über die aussterbende Gemeinde der Juden. Sie kamen in mehreren Wellen nach Indien. Glaubwürdige Legenden berichten, dass im ersten Jahrhundert Juden aus dem Mittleren Osten an der südindischen Westküste, dem heutigen Kerala, landeten. Doch historisch belegt ist ihre Präsenz ab dem Jahr 1000. Die über vierhundertjährige Synagoge in Kochi (Cochin) ist eine der vielbesuchten Sehenswürdigkeiten Keralas. Doch heutzutage ist das jüdische Viertel nur von Touristen überschwemmt – kaum ein Dutzend Juden ist geblieben, der Rest nach Israel ausgewandert.
Aus dem Gebiet des jetzigen Israel waren Juden nach Indien eingewandert, genannt Bene-Israel-Juden, die sich in der Gegend von Bombay (Mumbai) niedergelassen haben. Eine Zählung um 1941 ergab rund 22,000 Mitglieder. Immer noch die bedeutendste jüdische Gemeinde Indiens, ist ihre Zahl inzwischen auf schätzungsweise weniger als 1,500 gesunken.
Die Juden, die den Weg nach Kalkutta fanden, wanderten seit Ende des 18. Jahrhunderts aus dem Irak, auch aus Syrien und dem Iran, ein und heißen darum Baghdadi-Juden. Sie handelten mit Edelsteinen, Baumwolle, Gewürzen, Seidenstoffen, Opium, Kaffee und Elfenbein. Unter dem Einfluss der britischen Kolonialmacht nahmen Juden in Kalkutta, der Kolonialhauptstadt Indiens, schon früh westliche Kleidung und Gebräuche an und förderten durch ihre karitativen und pädagogischen Einrichtungen das Allgemeinwohl. Die Juden waren ausdrückliche Sympathisanten der Engländer und hatten zu ihnen mehr Vertrauen, als zu der herrschenden indischen Klasse, die nach der Unabhängigkeit im Jahr 1947 die Regierung übernahm.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, als zahlreiche jüdische Flüchtlinge aus Burma eintrafen, erreichte die Gemeinde kurze Zeit eine Stärke von rund fünftausend Mitgliedern. 1948 entstand der Staat Israel und zog vor allem die weniger begüterten Juden Kalkuttas an. Besser gestellte Juden verkauften ihre Geschäfte und emigrierten nach Großbritannien und in die USA, oder sie schickten ihre Kinder dorthin an die Universitäten. Überall in der Welt fanden indische Juden rasch Anschluss, denn überall gab es zuvor eingewanderte Verwandte, gab es auch jüdische Organisationen, die die Ankömmlinge in die neue Heimat einführten.
In Kalkutta schlich sich vor einer Generation das Gefühl ein, dass die jüdische Gemeinde Kalkuttas dem Niedergang zugeht – unaufhaltsam. Fatalismus breitete sich aus. Ein blühendes Gemeindeleben ist zu einem Schatten seiner selbst verblasst. Die beiden jüdischen Schulen etwa, die Jewish Girls’ School und die Elias Meyer Free School and Talmud Torah für Jungen, einst Mittelpunkte gesellschaftlicher Verantwortung, haben schon lange keine jüdischen Schülerinnen und Schüler mehr, auch die letzte jüdische Direktorin hat sich verabschiedet. Die Mehrheit sind heute muslimische Kinder und Kinder aus armen Verhältnissen, deren Eltern Analphabeten sind. Allerdings verwaltet die Gemeinde die Schulen weiterhin, die zu den besten Kalkuttas zählen. Jo selbst ist die Vizepräsidentin der Mädchenschule.
Während der letzten Jahrzehnte hat keine jüdische Hochzeit stattgefunden, so tief sitzt die kollektive Depression. Inzwischen fänden jüngere Menschen auch keine Partner in den eigenen Reihen mehr, erzählt Jo. Darum haben jüdische Männer oft christliche Frauen geheiratet. Wenn diese sich nicht zum Judentum bekehren und ihre Kinder nicht jüdisch erziehen, geht die Familie für die Gemeinde verloren. Die dezimierte Gemeinde kämpft darum, noch zu „funktionieren“. Seit langem hat sie keinen Rabbiner mehr und bekommt nicht einmal die notwendige Zahl von zehn Männern zusammen, um nach jüdischem Gebot den Sabbat zu feiern.
Kalkutta besitzt drei ehrwürdige alte Synagogen, von denen zwei – die Maghen David Synagoge und die Beth-El Synagoge – unter Denkmalschutz stehen und von dem staatlichen Archeological Survey of India instandgehalten werden. In diesen zwei Synagogen finden noch Gottesdienste statt, an einem Samstag in der einen, am nächsten in der anderen. Eine Handvoll Gläubige findet sich ein, von denen einige nicht mehr die Gebete auf Hebräisch sprechen können. David Nahoum war einer der letzten, der die Feiern anführte, ihm antwortete Jo. Ursprünglich hatten die Frauen auf der Empore, den Blicken der Männer unerreichbar, sitzen müssen und durften am Gebet nicht aktiv teilnehmen. Die Not macht erfinderisch – und tolerant: Jo stand drei Schritte hinter David, um symbolisch den Abstand zwischen Männern und Frauen zu wahren.
Noch bemerkenswerter ist ein anderer Ausweg, den die Juden gefunden haben. In Kalkutta leben Hunderttausende von Muslimen, dennoch sind sie eine Minderheit unter den Hindus. Juden und Muslime entdecken in Kalkutta aus ihrem Minoritätsbewusstsein heraus ihre historischen Gemeinsamkeiten, und spüren, dass sie als monotheistische Religionen einander näher sind, als etwa den Hindus und Sikhs. Die Hausmeister und Betreuer der Synagogen sind Muslime. Muslimische Frauen nehmen die rituellen Totenwaschungen vor, wenn eine Jüdin stirbt. Die Männer können noch selbst für ihre Toten sorgen. Käme dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit doch auch in anderen Ländern auf!
David Nahoum habe ich gut gekannt, als er noch Mittelpunkt der jüdischen Gemeinde war. Vor drei Generationen kam die Familie aus dem Iran nach Kalkutta und gründete im altehrwürdigen New Market im Stadtzentrum eine feine Zuckerbäckerei. Sie ist berühmt für ihre jüdisch inspirierten Delikatessen und europäischen Süßigkeiten mit garantiert reinen Ingredienzien, die oft von weither eingekauft wurden. Der etwas trist ausgestattete Laden innerhalb des Wirrwarrs von Markthallen und Buden, ist Anziehungspunkt aller Kalkutta-Einwohner, die auf die Esskultur der guten alten Zeit wertlegen, und Treffpunkt der jüdischen Gemeindemitglieder.
David Nahoum ist der letzte von vier Brüdern, die nacheinander das Geschäft geleitet haben. Flora, eine Schwester, wanderte nach Israel aus; weitere Familienmitglieder wohnen schon lange in London und Israel. Keiner der Brüder in Kalkutta hat geheiratet, so als wäre ihnen bewusst gewesen, dass die Gemeinde keine Lebenskraft mehr besitzt und im Aussterben begriffen ist. Selten habe ich bei meinen Kalkutta-Besuchen einen Gang zu Nahoum & Sons versäumt, um zu beobachten, wie David hinter seinem kleinen, antik-schwarzen Kassentisch residierte. Die Füße auf ein Bänkchen gestellt, saß er wie angewachsen und verband charmant Business mit Gastfreundlichkeit. Während er zusammenrechnete, Geld annahm, Geld herausgab, besprach er voll Bonhomie die Entwicklungen in der jüdischen Gemeinde – Wer ist krank geworden? Wer braucht Hilfe? Welche? – oder erzählte Besuchern aus der weiten Welt zum x-ten Mal aus seinem Leben.
Die Bäckerei der Nahoums lag unmittelbar gegenüber vom New Market, und über der Bäckerei war Davids Wohnung – dunkel, schäbig, aber überzogen mit der Patina einer alten Welt, an die sich nur er noch erinnert. Dann und wann verließ er Kalkutta zum Fischen, aber meist saß er, die Füße auf das Bänkchen gestellt, in seinem Geschäft. So werden sich die meisten an ihn erinnern. David Nahoum starb im Jahr 2013.
Wer die älteste Synagoge Kalkuttas, Beth-El („Haus Gottes“), betreten will, muss erst eine Weile in der Pollock Street nach dem Eingang suchen. Die Türme ragen hinter einem Kuddelmuddel niedriger Shops und Büdchen hervor, deren bunte Waren das Tor verstellen. Lebhafte junge Männer mit schwarzen Kinnbärten räumen es frei, und als wir in den Hallenraum mit Flachdecke eintreten, empfängt uns eine befreiende Leere. Der Altar mit Torah thront still in der Mitte der Apsis. Farbige Glasfenster streuen ein irreales Licht über die schönen, alten Holzstühle und den kühlen Steinplattenboden. In keinen anderen Gotteshäusern Kalkuttas erhält man ein solch wohltuendes Raumgefühl wie in den beiden Synagogen Beth-El und Maghen David („Stern Davids“), die nur einen Steinwurf voneinander entfernt liegen. Ist’s ein historischer Zufall, dass die Saifi-Moschee, die Portugiesische Kirche und die Armenische Kirche in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Synagogen angesiedelt sind?
Diese majestätische Leere umfängt uns auch auf dem jüdischen Friedhof in Narkeldanga im östlichen Kalkutta. Ian Zachariah hatte uns die Synagogen gezeigt, und nun fährt er mit uns zu dem einzigen Friedhof der Gemeinde, einem weiträumigen, von hohen, groben Mauern umgrenzten Terrain. Ian Zachariah, eines der aktiven Mitglieder der jüdischen Gemeinde in der mittleren Generation wie Aline Cohen, ist Journalist und schreibt über die bengalische Gastronomie in englischsprachigen Zeitungen. Der Friedhof ist nicht eigentlich leer: Ungezählte fußhohe Grabmäler in Menschengröße liegen dicht neben- und hintereinander, alle gleich niedrig und breit und lang. Über dem dunklen Zementsockel eine flache Wölbung, auch aus Zement. Alles ohne Anstrich, melancholisch von Regen und Wetter geschwärzt und bemoost, ohne Verzierung, ohne Schönheit, ohne die Feierlichkeit der Trauer. An den Querseiten, auch in verwesenden Schriftzügen, jeweils die Namen der Verstorbenen. Daneben, in frischer Farbe, Reihennummern und Grabnummern.
Shalom Israel hat auf uns gewartet. Der Dreißigjährige, einer der Jüngsten der Gemeinde, ist der Verwalter des Friedhofs. Sein Vater ist Jude, seine Mutter bengalische Katholikin. Bengalisch sei seine Muttersprache, Hebräisch ist ihm fremd. Im Laufe des Gespräches wirkt Shalom gar nicht wie andere Bengalen. Sein spärlicher Vollbart, die weiche, monotone Aussprache und die milden Gesten sind nicht jungenhaft, sein Lächeln ist nicht von dem Gehabe der Hindifilmstars angesteckt, die doch in der Phantasie aller Zwanzig-Dreißigjährigen tanzen, knallen, verliebt die Augen rollen. Scheint ein Chassidim in seinem Gesicht durch? Er wird nie von den jüdischen Mystikern Osteuropas gehört haben.
Ian sucht das Grabmal seines Vaters, sucht und sucht, zögert und zeigt dann: „Das ist sein Grab!“ Er schreitet drumherum, betrachtet das Nachbargrab und bemerkt: „Es kann auch das eines anderen sein.“ Der Friedhof gehört der jüdischen Gemeinde seit 1812. Irgendwo in den hinteren Reihen liegt das Grab des Begründers der Gemeinde, Shalom Cohen, der Aleppo 1792 verließ und über mehrere Stationen an der indischen Westküste Kalkutta erreichte. Als reicher Kaufmann bewegte er sich in den höchsten Kreisen des Mogul-Hofes und der britischen Kolonialregierung. Vom Eingang schweift der Blick weit über die einförmigen Zementgräber. Dieser Freiraum ist im verstopften Kalkutta ein bewundernswertes Geschenk. Sicher hocken die Makler schon wie Geier auf den Mauern und üben den Gleitflug hinab zu den Gräbern. Am äußeren Ende wohnt eine muslimische Familie in einer Baracke und hält Wacht, damit über Nacht keine encroachers das Land gewaltsam besetzen. In seinem traurigen, brüchigen Frieden befangen, scheint heute die jüdische Gemeinde an diesem Ort wesentlicher zu „leben“ als anderswo.
Auf dem Rückweg erzählt uns Ian Zachariah, dass die karitativen Einrichtungen der Gemeinde, die auch von den USA unterstützt werden, sich inzwischen fast nur um die Kranken und Alten kümmern, die nicht mehr auswandern können, deren Wurzeln vielleicht auch zu tief in Kalkuttas Boden eingegraben sind. „Die Juden sind Indien dankbar“, sagt er. „Immerhin ist es das einzige Land, das wir bewohnt haben, in dem nie Antisemitismus geherrscht hat.“
Weitere Infos s. https://www.bbc.com/travel/article/20190417-the-indian-synagogues-preserved-by-muslims (2019)