Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
“Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) ist eine Ideologie der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit”. Dies war eine der zentralen Thesen des Eröffnungsvortrags der in Kooperation mit der Melanchthon-Akademie durchgeführten INTR°A-Tagung 2021, die die Referentin Patricia Jessen vom Ibis-Institut in Duisburg den Teilnehmern vor Ort in Köln und an den Bildschirmen prägnant vor Augen stellte.
Die Islamwissenschaftlerin entfaltete in ihrem Vortrag die verschiedenen Facetten der GMF, die das Hintergrundproblem der Aufgabe, “Den Geist des Hasses und der Intoleranz überwinden” (Thema der Tagung) auf den Begriff bringt. Ein besonderes Augenmerk richtete die Referentin auf Tendenzen in diese Richtung in den verschiedenen religiösen Traditionen, u.a. im Islam. Als zentrale Lösungsansätze empfahl sie u.a. “Selbstreflexion und -kritik innerhalb der religiösen Gemeinschaften” und “interreligiösen Austausch”. In einer ersten Nachfragerunde zum Vortrag wurde u.a. die Rolle des Faktors Neid bei GMF thematisiert und danach gefragt, inwiefern GMF nicht nur von Mehrheiten gegenüber Minderheiten, sondern auch umgekehrt von bestimmten Minderheitsgruppen gegenüber einer Mehrheit praktiziert werde. Die gesamten Folien der sehr anschaulichen Präsentation der Referentin finden Sie hier.
Fundamentalismus
Nach dem Vortrag von Frau Jessen eröffnete Dr. Marien van den Boom, niederländischer Religionswissenschaftler und Theologe sowie Vorstandsmitglied von INTR°A, die Runde mehrerer Kurzvorträge, die weitere Perspektiven zum Thema einbrachten. Sein Beitrag zum Teilthema “Fundamentalismus”, den er coronabedingt online einbrachte, ging aus von den negativen, polarisierenden Folgen der Corona-Pandemie (“eine Melange von reaktionären und fundamentalistischen Kräften”), um dann den tieferen Ursachen fundamentalistischer Tendenzen durch eine religionsphänomenologische Betrachtung nachzuspüren.
Im Kern entfaltete van den Boom darin die These, dass fundamentalistische Tendenzen in dem tiefliegenden Bedürfnis des Menschen nach Sicherheit und Ordnung mitten in einer chaotischen und angsterregenden Welt gründen, die Menschen durch religiöse Projektionen zu befriedigen suchen. Dabei hob der Referent zugleich die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der religiösen Antworten auf dieses Ausgangsproblem hervor, die u.a. mit der unterschiedlichen Grundprägung z.B. der monotheistischen und der asiatischen Religionen zu tun hätten. Im Anschluss an den Impuls wurde insbesondere die letztgenannte Unterscheidung von bestimmten Grundprägungen der Religionen kontrovers diskutiert. Den gesamten Wortlaut des Vortrags finden Sie hier.
Islamismus vs Islam
Danach steuerte Gülsüm Dal-Izgi aus Dortmund bzw. Münster, die wir bewusst als engagierte Dialogikerin der jüngeren Generation eingeladen haben, einen Beitrag aus islamischer Perspektive bei. Dal-Izgi hat als Muslima in Münster islamische Theologie und zugleich katholische Religionslehre studiert und kann insofern als außergewöhnliche Brückenbauerin bezeichnet werden. In ihrem Vortrag analysierte sie zunächst den Islamismus (im Unterschied zum Islam), seine ideologischen und theologischen Grundlagen und seine Attraktivität für bestimmte Jugendliche. Im darauf folgenden Abschnitt ihres Beitrags fragte die Referentin nach den Ursachen von Antisemitismus bei muslimischen Jugendlichen und hob insbesondere die Bedeutung des islamischen Religionsunterrichts hervor, um über das Judentum umfassender aufzuklären (jenseits der sich negativ auswirkenden Fixierung auf den Holocaust!). Abschließend zeigte Dal-Izgi gut nachvollziehbare Präventionsmöglichkeiten aus der Mitte der islamischen Tradition auf. Alle Folien der prägnanten Präsentation finden Sie hier.
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit im Hinduismus
Im Anschluss an den Beitrag von Dal-Izgi nahm dann der diesjährige Träger des INTR°A-Projektpreises Dr. Martin Kämpchen, der um einen Beitrag auf dem Hintergrund seiner langjährigen Erfahrung mit dem Hinduismus gebeten war, Stellung zum Thema. Kämpchen stellte zunächst die starken Gegensätze in der indisch-hinduistischen Gesellschaft und Kultur heraus: Sie sei einerseits von einer starken Familien- und Gruppenorientierung geprägt, die immer wieder – und zwar ausgeprägter als in der deutschen Gesellschaft – zu scharfen Abgrenzungen und Verwerfungen führe. Anderseits sei das Leben in Indien von einem starken, inspirierenden Einheitsgefühl und -bewusstsein geprägt, dass immer wieder direkt im Alltag zu spüren sei. In einem weiteren Abschnitt thematisierte Kämpchen die in Indien zugleich immer wieder zu beobachtenden Ausbrüche von Gewalt, die er u.a. auf die spezifische indische Mentalität, mangelnde Aufklärung und politische Instrumentalisierung religiöser Gefühle zurückführte. Lösungsansätze zur Überwindung von Gewalt sah Kämpchen darin, das Einheitsbewusstsein stärker in den Vordergrund zu stellen und Gandhi’s Philosophie der Gewaltfreiheit konsequent anzuwenden. In der anschließenden Diskussion wurde u.a. die Frage aufgeworfen, inwiefern das in Indien stärker ausgeprägte Einheitsbewusstsein tatsächlich – angesichts der enormen Widersprüche und gegenwärtigen politischen Instrumentalisierungen dieses Einheitsbewusstseins in Indien – wichtige Impulse für Deutschland und Europa bietet. Ebenso wurde erörtert, in welchem Maß außer politischen auch religionsinhärente Faktoren für grassierenden Fundamentalismus und Gewalt in Indien und darüber hinaus verantwortlich sind. Den Text des Beitrags von Kämpchen finden Sie hier.
Flexible Identität
Nach der Mittagspause setzte dann die niederländische Erziehungswissenschaftlerin, Philosophin und Religionspädagogin Dr. Ina ter Avest die Reihe der Kurzvorträge fort.
In ihrem Online-Beitrag, der aus zeitlichen und inhaltlichen Gründen in den frühen Nachmittag verschoben wurde, analysierte ter Avest zunächst die großen Herausforderungen für die Identitätsentwicklung von Jugendlichen in der Gegenwart, die vereinfachende, fundamentalistische Muster befördern können. Im Anschluss an die “Dialogical Self Theory” stellte die Referentin sodann ein Konzept vor, wie man bei muslimischen und anderen Jugendlichen eine flexiblere Identität befördern kann, die starre, fundamentalistische Muster hinter sich lässt. Hierzu stellte ter Avest abschließend konkrete Methoden (z.B. das Spiel “Mirror Mind” und provokative Interventionen) vor, die die Erziehungswissenschaftlerin zusammen mit anderen in einem größeren Projekt entwickelt hat und die religionsübergreifend anwendbar sind. Den gesamten Wortlaut des inspirierenden Beitrags von Dr. ter Avest finden Sie hier.
Dimensionen des Dialogs – Diskussionspunkte
Das anschließende Podium mit den Referenten, auf dem die angesprochenen Aspekte und Fragen zum Thema in praktischer Perspektive weiter vertieft werden sollten, beschäftigte sich zunächst mit den innovativen Impulsen des Vortrags von Dr. ter Avest. Dabei wurde von verschiedenen Seiten die besondere Bedeutung von nonverbalen, d.h. spielerischen und gemeinschaftsbildenden Momenten für den interreligiösen Dialog und eine dementsprechende Identitätsbildung, die starre und unflexible Muster hinter sich lässt, betont. Ebenso wurde hervorgehoben, dass es darauf ankomme Jugendliche (und andere!) einerseits zu einer offeneren Identitätsbildung herauszufordern, ihnen aber anderseits zugleich einen “safe space” zu geben, in dem sie sich öffnen können (u.a. für eine Wertschätzung von Diversität). In einem weiteren Gesprächsgang, der sich auf den Einführungsvortrag zurückbezog, wurde die zugespitzte These von Patricia Jessen, dass GMF in ihren unterschiedlichen Spielarten vor allem in patriarchalischen Denkweisen und Strukturen wurzele, kontrovers diskutiert. Dabei ging es noch einmal um die Frage, was das zentrale, allgemeine Kennzeichen von GMF ist. Als alternative Antwort dazu wurde vorgeschlagen, dieses allgemeine Kennzeichen in der pauschal negativen, nicht differenzierenden Sicht einer bestimmten Gruppe zu sehen. Den thematischen Teil der insgesamt gelungenen Tagung beendeten schließlich Dr. Martin Bock für die Akademie und Pfr. Achim Riggert für INTR°A mit Worten des Dankes an die inspirierenden Referent:innen und die übrigen Teilnehmer in Köln und an den Bildschirmen.
Projektpreisverleihung an Martin Kämpchen
Nach einer kurzen Pause stand dann die Verleihung des INTR°A-Projektpreises 2021 auf dem Programm, die jedes Mal ein besonderes Highlight der INTR°A-Jahrestagung darstellt.
Der Preis wurde in diesem Jahr an den renommierten Schriftsteller, Kulturvermittler und Promotor des christlich-hinduistischen Dialogs Dr. Martin Kämpchen verliehen, der vorher bereits intensiv an der Tagung mitgewirkt hat (s.o.).
Für die feierliche Rahmung sorgte der Projektpreisträger aus dem Jahr 2019 (Ensemble marsaleko) Heiko Fabig mit eindrücklichen, selbstkomponierten Klavierstücken.
Für die Laudatio konnten wir den gebürtigen Inder, Autor, Jounalist und Sprachlehrer Jose Punnamparambil gewinnen, der seit über 50 Jahren in Deutschland lebt und mit Martin Kämpchen seit langen Jahren durch zahlreiche Projekte eng verbunden ist (Vielen Dank an Ruth Heap von der deutsch-indischen Gesellschaft und unser ehemaliges Vorstandsmitglied Alice Schumann für die Vermittlung!). Näheres zur Biographie und zu Veröffentlichungen von J. Punnamparambil s. hier. Punnamparambil zeichnete in seiner Laudatio den Lebensweg von Martin Kämpchen und sein schriftstellerisches Schaffen in eindrücklicher Weise nach und würdigte ihn als einen prägenden Vermittler indischer Kultur und Religion der Nachkriegszeit für die westliche Welt. Den detaillierten Wortlaut der Laudatio, die der Laudator coronabedingt nur online vortragen konnte, finden Sie hier. Der Wortlaut der Urkunde, die Martin Kämpchen nach der Laudatio überreicht wurde, ist hier zu finden.
In seiner Dankesrede ging Martin Kämpchen zunächst auf den Inhalt seiner Autobiographie ein, die im Frühjahr 2022 im Patmosverlag erscheinen wird und für deren Veröffentlichung das Preisgeld im wesentlichen verwendet werden soll. In diesem Buch schildert Kämpchen vor allem, was er im Lauf seines langen Lebens in Indien über dieses Land erfahren und gelernt hat, womit er trotz hunderter von Seiten keineswegs beansprucht ein vollständiges Bild Indiens geben zu können. Den zweiten Teil seiner Rede widmete Kämpchen schließlich noch einmal seinem Verständnis des interreligiösen Dialogs, wie er ihn jahrzehntelang als Christ mit Hindus eingeübt und praktiziert hat. Er legte darin erneut ein beeindruckendes Zeugnis für die tiefe dialogische Haltung ab, die sein Leben prägt! Der ganze Wortlaut seiner berührenden Dankesrede ist hier zu finden.
Achim Riggert, INTR°A