Inter-Religio – Das Christentum in Beziehung zu anderen Religionen

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Reinhold Bernhardt: Inter-Religio. Das Christentum in Beziehung zu anderen Religionen (Beiträge zu einer Theologie der Religionen, Bd. 16), TVZ-Zürich, 2019, 463 S.

Wie Christen anderen Religionen begegnen und sie einschätzen sollen, wird seit einigen Jahrzehnten intensiv diskutiert. Dazu sind inzwischen eine Fülle von theologischen Ansätzen und Konzepten entwickelt worden. Der Baseler systematische Theologe Reinhold Bernhardt will in diesem Buch eine Übersicht dazu geben, die Schneisen schlägt und die wesentlichen Stränge vor Augen führt, aber zugleich auch seine eigene Position deutlich machen (S. 11). Seine zugleich bilanzierende und pointierende Darstellung knüpft an frühere Zwischenbilanzen des Autors zum Thema an (s. Ende des Dialogs?, 2005), schließt aber in dieser Form durchaus eine Lücke in der gegenwärtigen theologischen Landschaft im deutschsprachigen Raum.
Bernhardt legt seinen Ausführungen eine von ihm kreierte Unterscheidung zu Grunde: Er unterscheidet zwischen Konzepten zur “Beziehungsbestimmung”, in denen es um theologische Leitvorstellungen für die Herangehensweise an andere Religionen und ihre Beurteilung geht (“Theologie der Religionen”), und Konzepten für die “Beziehungsgestaltung”, die “Paradigmen der Zuordnung” für die praktische Interaktion entwickeln (“Begegnung der Religionen” – S. 9). Auf dieser Grundlage besteht der Kern von Bernhardts Buch in der Darstellung und Erörterung von insgesamt fünf Modellen dieser Beziehungsbestimmung bzw. -gestaltung: für die praktische Gestaltung sind das die Modelle “Dialog” und “Gastfreundschaft” (S. 183ff.) und für die theoretisch-theologische Bestimmung die Modelle “Einheit im Grund – Vielfalt der Erscheinung” (d.h. sogenannte pluralistische Ansätze) , “Abrahamische Ökumene” (d.h. von einer gemeinsamen Wurzel ausgehende Ansätze) und schließlich “Komparative Theologie” (d.h. Ansätze, die insbesondere in Absetzung vom erstgenannten Modell auf interreligiöse Vergleiche abstellen). Der Autor beschränkt sich allerdings nicht auf die materiale Behandlung diese Modelle, sondern widmet sich davor ausführlich definitorischen und prinzipiellen sowie historischen Fragen (S. 13-181).
Da interreligiöse Beziehungen für den Verfasser zurecht eng mit interkulturellen Beziehungen zusammenhängen, untersucht er in einem ersten Schritt (Kap. 1) das Begriffsfeld “interkulturell” und “Interkulturalität” und entfaltet auf diesem Hintergrund sein eigenes Verständnis von Interkulturalität, das durch die Begriffe “verschieden” und “relational” gekennzeichnet ist (S.38). Dies führt ihn schließlich zu einer zurückhaltenden Konzeption interkultureller Hermeneutik, die eher die Aufgabe der Übersetzung der kulturellen und religiösen Welt des anderen in den je eigenen Verstehenshorizont (nach P. Ricoeur) betont, als die optimistischere Suche nach verbindenden “funktionalen Äquivalenten”, wie es z.B. R. Panikkar vorgeschlagen hat (S. 45ff.). Im Zuge der anschließenden Untersuchung der parallel zum Kultursektor laufenden Begriffe Multireligiösität, Interreligiösität und Transreligiösität (Kap. 2) plädiert Bernhardt u.a. für ein interdisziplinäres Verständnis von Religion (S. 63) und unterscheidet und skizziert fünf handlungsleitende Agenden der interreligiösen Beziehungsgestaltung (politisch, kooperationsorientiert, hermeneutisch, spirituell und theologisch – S. 92ff.). Die kürzeren, aber präzisen Überlegungen zum Begriff der “Transreligiösität” münden in eine erfreulich positive Würdigung der Chancen transreligiöser Identitäten bzw. Doppelzugehörigkeiten (S. 145f.). In dem ebenfalls kürzeren Abriss zu neueren historischen Entwicklungen führt der Autor “Paradigmenwechsel” im Verhältnis zum Judentum, Islam und zum Buddhismus vor Augen, die insgesamt – trotz mancher Rückschläge und kontextbedingter Verzerrungen (bezüglich des Buddhismus) – zu einer differenzierteren, positiveren und dialogoffeneren Sichtweise der genannten Religionen geführt haben (147ff.).
In den Ausführungen zum ersten Paradigma praktischer Gestaltung, dem Dialog-Modell (Kap. 4.1), zeigt der Verfasser gut nachvollziehbar auf, wie das Dialog-Paradigma seit den 1960er Jahren insbesondere durch den jüdisch-christlichen Dialog und die Dialogphilosophie (Martin Buber u.a.) und durch die Aufnahme in der ökumenischen Bewegung zunehmend an Profil und Bedeutung gewonnen hat. In der vertiefenden Analyse einzelner Aspekte und Probleme des Dialog-Paradigmas wie zum Beispiel der Spannung zwischen “Ideal und Realität”, dem Verhältnis zwischen “Dialog und Wahrheit” und “Dialog und Mission” wird deutlich, dass der Autor das Dialog-Paradigma zwar grundsätzlich unterstützt, aber auch Kritik an seines Erachtens zum Teil unrealistisch-idealistischen Voraussetzungen dieses Modells für angebracht hält (S. 215ff.).
Das zweite Modell für die praktische Gestaltung, das Modell der “Gastfreundschaft”, führt der Verfasser zurecht als Gegenmodell zum Dialog-Paradigma ein, das auf dem Hintergrund kritischer Einwände gegen das Dialogmodell besonders in letzter Zeit entwickelt und ins Spiel gebracht wurde. In diesem Modell steht insofern, wie Bernhardt treffend ausführt, nicht die symmetrische, an Gegenseitigkeit orientierte Interaktion, sondern eine stärker asymmetrische Rollenverteilung zwischen Besuchenden und Besuchten im Zentrum (S. 224), die u.a. die Beibehaltung der eigenen religiösen Identität stärker betont (S. 225). Im Vergleich mit dem Dialogmodell attestiert der Autor diesem Modell, zu dem er zwei neuere Entwürfe (M. Moyart u. M. Eckhold) vorstellt, insgesamt eine größere Nähe zur biblischen Tradition, ebenso eine breitere Anwendbarkeit – worin er Präferenzen für dieses Modell erkennen lässt (S. 259ff.), obwohl er zugleich auch kritische, korrekturbedürftige Aspekte anspricht (263ff.).
In seinen im engeren Sinne religionstheologischen Reflexionen, die gemäß dem religionstheologischen Profil des Verfassers den Glutkern seines Buches ausmachen, diskutiert er zunächst einige grundsätzliche Fragen und Entwürfe zu Wesen und Aufgabe der Religionstheologie (Kap. 5). Die Darlegungen dazu führen den Autor zu der Unterscheidung zwischen zwei problematischen Strategien angesichts der theologischen Herausforderung durch den religiös anderen: einerseits die Selbstverabsolutierung des christlichen Glaubens und andererseits die relativierende Zurücknahme der eigenen Glaubensüberzeugung, d.h. die Aufgabe des  Universalitätsanspruchs dieser Überzeugung (S. 295). Demgegenüber empfiehlt der Verfasser als “dritte(n) Weg” sein Modell eines “Inklusivismus auf Gegenseitigkeit”, das Standort- und Standpunktgebundenheit mit interreligiöser Offenheit verbinden will. (S. 296ff.). Dabei bleibt allerdings offen, inwiefern diese Form des Inklusivismus über die ohnehin bestehenden Inklusivismen hinausgeht, d.h. lediglich das Faktische zur Norm macht. Auf dem Hintergrund der kritischen Analyse einer primär religionsphilosophisch begründeten Religionstheologie (Chr. Danz u.a.) bekennt sich der Autor – im Anschluß an Tillich – zu einem dezidiert theologischen Zugang aus der Mitte der eigenen Tradition (319ff.).
Die Darstellung des ersten religionstheologischen Paradigmas (“Einheit im Grund – Vielfalt in der Erscheinung”) konzentriert sich – nach einem interessanten Aufweis von Vorläufern in früheren Zeiten (Rom, Aufklärung) und in Indien (S. 341ff.) – auf eine kritische Darstellung und Erörterung der neueren “Pluralistischen Religionstheologie” seit den 1980er Jahren, und zwar vor allem der Ansätze von John Hick und Perry Schmidt-Leukel (S. 354ff.). Als Kern des pluralistischen Ansatzes identifiziert der Verfasser das “Postulat eines transzendenten Einheitsgrundes” verbunden mit der Behauptung, “die in den Religionen erschlossenen Beziehungen zu diesem Grund und die sich daraus ergebenden heilshaften Transformationen der menschlichen Existenz seien im Prinzip gleichwertig” (S. 354f.). Nach einer kurzen Rekonstruktion des Modells und der scharfen Kritik daran von katholischer und evangelischer Seite (Katholisch: Relativismus; Evangelisch: Behauptung einer nicht gegebenen essenziellen Gemeinsamkeit der Religionen, verfehlte Metaperspektive) stimmt der Autor der letztgenannten Kritik von evangelischer Seite im Prinzip zu (S. 358). An Schmidt-Leukels Folgekonzept einer “Interreligiösen Theologie”, das der Verfasser ebenfalls erörtert, moniert er vor allem dessen “erkenntnistheoretischen Realismus und Rationalismus” (S.364). Auch gegen die neuere “fraktale Interpretation religiöser Vielfalt” von Schmidt-Leukel bringt der Verfasser vergleichbare, gravierende Einwände vor, die sich erneut vor allem auf das seines Erachtens zu Grunde gelegte, aber unhaltbare Einheitsmodell beziehen (S.368f.). Dem stellt Bernhardt – wie schon in früheren Disputen mit Schmidt-Leukel – sein Konzept einer zwar interreligiös offenen, aber stärker konfessionell rückgebundenen Theologie gegenüber (S.371f.).
Dem zweiten religionstheologischen Paradigma (“Abrahamische Ökumene”), das der Autor vor allem anhand der neueren Entwürfe von Karl-Josef Kuschel (kath.) und Berthold Klappert (ev.) vor Augen führt (S. 377ff.), gesteht der Autor zwar eine “größere Nähe zu den beiden Testamenten der Bibel und zum Koran sowie zu den Traditionen der Abrahamischen Religionen” zu (S.390), wirft diesem Ansatz aber letztlich in ähnlicher Weise wie dem pluralistischen Paradigma eine lediglich konstruierte Einheit – jetzt in Bezug auf Abraham – vor, die angesichts der sehr heterogenen Abrahamsverständnisse nicht wirklich gegeben sei bzw. kaum als solche erwiesen werden könne (387ff.).
Das dritte religionstheologische Paradigma (“Komparative Theologie”) stellt der Autor zurecht – in ähnlicher Weise wie das praktische Modell der “Gastfreundschaft” – als Gegenmodell zu den anderen Modellen (s.o.) vor, das bewusst auf vorgängige religionstheologische Festlegungen, Einheitspostulate u.ä. verzichten will und stattdessen vorrangig das “Einzelne und Spezifische” in vergleichender Perspektive untersuchen will (S. 393ff.).  Sein Urteil zu diesem Ansatz, dessen verschiedene Varianten er pointiert nachzeichnet (u.a. die Zugänge der Pioniere Francis X.Clooney und James Fredericks, USA und die von Ulrich Winkler und Klaus v. Stosch im deutschsprachigen Raum) fällt gemischt aus: Einerseits sieht er in dem Ansatz eine “wichtige Kurskorrektur” in der Religionstheologie, anderseits hält er den oftmals damit verbundenen Alternativanspruch, der eine eingehende religionstheologische Reflexion und Systematisierung ausklammern will, für verfehlt (S.429f.).
Im resümierenden Kapitel 7 profiliert der Autor schließlich auf dem Hintergrund der vorhergehenden Erörterungen seinen eigenen, moderaten Ansatz einer “interreligiösen Offenheit”, der, wie oben bereits erwähnt, die feste Verankerung in der eigenen Tradition mit einer reflektierten Öffnung für die Wahrheit in anderen religiösen Traditionen verbinden möchte (S. 431ff.). –

Insgesamt bietet die Darstellung von Bernhardt einen gründlichen Einblick in die zahlreichen Konzepte zur Gestaltung und Bestimmung der Beziehung des Christentums zu anderen Religionen der letzten Jahre und Jahrzehnte. Sie zeichnet sich durch ihre eigenständige Systematik und durchgängig problemorientierte, profunde Reflexion in Verbindung mit einer unaufdringlichen Präsentation der eigenen Position aus. Die Lektüre des Buches ist deshalb allen Theologiestudierenden und Interessierten, die das Feld der interreligiösen Beziehungen tiefer durchdringen und verstehen wollen, sehr zu empfehlen. Es setzt allerdings, denke ich, einige Vorerfahrungen und erste Vorkenntnisse voraus.
Zu folgenden Punkten ergeben sich für mich kritische Rückfragen:
1. Bernhardt evaluiert sowohl das praktische Modell des Dialogs als auch das praktische Modell der “Gastfreundschaft” hinsichtlich Stärken und Schwächen, deutet aber eine größere Neigung zu dem letztgenannten Modell an. Damit stützt er letztlich eine Orientierung in den christlichen Beziehungen zu anderen Religionen, die eher defensivere und konservative Konzepte verfolgt. Dies verwundert angesichts des langjährigen, avantgardistischen Einsatzes des Autors für den interreligiös-theologischen Dialog, der größtmögliche “interreligiöse Offenheit” anstrebt.
2. Der Verfasser stellt den pluralistischen Ansatz in der Religionstheologie unter die Überschrift “Einheit im Grund – Vielfalt in der Erscheinung” und bestätigt die Kritik seitens evangelischer Theologen daran (s.o.). Diese Kritik ist in meinen Augen von einer verzerrten Sicht des pluralistischen Ansatzes bestimmt. Diese Verzerrung ist bereits in der Verwendung des Begriffs “Grund” angelegt. Sie suggeriert die vornehmliche Annahme einer gemeinsamen bzw. gleichen Grunderfahrung als zentralen Ausgangs- und Bezugspunkt, die in dieser Form von den führenden Pluralisten nicht behauptet wird. Es wird zwar durchaus ein vergleichbarer soteriologischer Grundvorgang angenommen (Hick), der die Annahme einer soteriologischen Gleichwertigkeit begründet (wie auch Bernhardt zutreffend herausstellt – S. 356). Aber Gemeinsamkeit und Einheit wird in erster Linie referentiell gedacht (Bezug auf die eine Wirklichkeit der Welt und transzendenter Wirklichkeit), während hinsichtlich der realen Erfahrungen damit gerade die Unterschiedlichkeit betont wird, die auch nicht auf lediglich unterschiedliche Erscheinungen einer essenziell immer gleichen Grunderfahrung reduziert werden soll. Ebenso nehmen die Vertreter dieses Ansatzes keineswegs eine abgehobene Metaperspektive oder „Vogelperspektive“ jenseits der konkreten religiösen Traditionen ein, sondern betonen gerade den notwendigen Ausgangspunkt in der eigenen theologischen Tradition (Schmidt-Leukel) bzw. in den religiösen Traditionen (John Hick). Ich selbst verstehe diesen Ansatz vor allem als „Hypothese bzw. Theorie aus Glauben“, die ihre zentrale Annahme einer gleichwertigen, heilshaften Präsenz Gottes in anderen Religionen aus der Mitte des Glaubens an den weltweit wirkenden, gnädigen Gott, der sich gerade in Christus als solcher erwiesen hat, entwickelt.
3. Der Autor vertritt, wie oben bereits erwähnt, den Ansatz eines „mutualen Inklusivismus“, der in der Schwebe lässt, inwieweit dies auch ein Plädoyer für die Aufgabe religionstheologischer Inklusivismen einschließt. Der Autor bewegt sich durchaus immer wieder in diese Richtung und plädiert in jedem Fall für die Aufgabe von Absolutheits- und Finalitätsansprüchen (S. 285ff. 292ff.), scheut aber davor zurück, sich die pluralistische These im obigen Sinne – auch nicht in der moderaten Form eines “potentiellen Pluralismus” – zu eigen zu machen. Dies läge nach meinem Eindruck aber durchaus auf der Linie der Anliegen und einzelner Ausführungen des Autors.

Achim Riggert