Religionsmonitor 2023 – Spannenende Ergebnisse zu Religion und religiöser Vielfalt in Deutschland

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Gelebte Vielfalt bei einem interreligiöser Gottesdienst in der Marktkirche, Essen

Der neue Religionsmonitor (hrsg. von der Bertelsmannstiftung) bietet aktuelle, zum Teil überraschende und zum Teil besorgniserregende Erkenntnisse zur Bedeutung von Religion und zur Realität und den Herausforderungen des Umgangs mit zunehmender religiöser Vielfalt in Deutschland.

Wir dokumentieren den gesamten Text im Anhang (s. hier ) und hier im Anschluss Auszüge aus der Einleitung von Yasemin El-Manouar:

„Religion ist in Europa und auch in Deutschland keineswegs auf dem Rückzug. Vielmehr
verändert sich die religiöse Landschaft tiefgreifend. Nach Berechnungen des Pew Research Center von 2015 wird sich das Christentum zwar auch künftig als die größte religiöse Gruppe in Gesamteuropa behaupten (Hackett, Philipp und Stonawski 2015). Jedoch
wird die Zahl der Christ:innen zwischen 2015 und 2050 um rund 100 Millionen auf 454 Millionen sinken. Das entspricht einem Anteil von noch 65 Prozent gegenüber rund 75 Prozent im Jahr 2015. Im Gegenzug steigt der Anteil der Muslim:innen – auch ohne weitere
Zuwanderung – von 4,9 auf 7,4 Prozent. Die Zahl der Religionslosen wird ebenfalls
deutlich zunehmen, und zwar von 18,8 auf 23,3 Prozent.

Hinter diesen Zahlen stehen rasante Transformationsprozesse. So entsteht zurzeit ein
diverser Islam europäischer Prägung. Aber auch die bislang vor allem volkskirchlich geprägten christlichen Identitäten sind im Wandel begriffen, sowohl innerhalb der Kirchen
als auch außerhalb. Zugleich erheben religionsferne Gruppen immer deutlicher ihre
Stimme, und das keineswegs nur glaubenskritisch. Alternative, popularisierte Glaubensformen erleben eine Konjunktur. Damit einhergehend scheinen sich Formen der Sinnsuche zu verändern und religiöse Funktionen wandern aus den traditionellen Glaubensgemeinschaften mehr und mehr in andere Lebensbereiche ab. Vieles spricht deswegen dafür, dass der Bedarf an Religion nicht geringer wird, sondern mit der steigenden Komplexität und Krisenanfälligkeit der Gesellschaften eher an Bedeutung gewinnt.

Die Migration beschleunigt die Pluralisierung der religiösen Landschaft in Deutschland und
Europa. Das betrifft keineswegs nur die verschiedenen islamischen Glaubensrichtungen.
In jeder europäischen Großstadt finden sich heute Diasporagemeinden aller christlichen
Konfessionen, zugleich tragen Einwanderungsbewegungen zur Ausbreitung evangelikaler und pfingstkirchlicher Gemeinschaften in Europa bei. Sie geben dadurch auch dem
europäischen Christentum ein neues Gesicht.

(…)

Die vorliegende Studie untersucht dies für die Gesellschaft in Deutschland. Anspruch dabei
ist es, die Relevanz von religiöser Vielfalt für den gesellschaftlichen Zusammenhalt näher zu beleuchten und dabei folgende Fragen in den Blick zu nehmen: 1. Wie stellt sich die gewachsene religiöse Vielfalt dar, welche besonderen Kennzeichen hat sie? 2. Wie viel
wissen die Menschen über die religiöse Vielfalt im eigenen Land? 3. In welchem Umfang haben sie Kontakte zu Menschen anderer Glaubenszugehörigkeit? 4. Inwieweit ist religiöse Vielfalt als Normalität nicht allein ein gesellschaftlicher Fakt, sondern auch gesellschaftlich verankert und anerkannt? 5. Welche Rolle spielen religiöse Vielfalt und der Umgang mit ihr für das zwischenmenschliche Vertrauen, eine Grundbedingung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in liberalen Demokratien?

Um diesen Fragen nachzugehen, geben die Autor:innen in einem ersten Schritt einen differenzierten Überblick über die religiöse Landschaft in Deutschland und beschreiben die Rolle von Migration und demographischen Entwicklungen für die religiöse Pluralisierung
im Land. In einem zweiten Schritt prüfen sie, inwieweit diese Entwicklungen nicht nur zu einer gesellschaftlichen Pluralisierung führen, sondern auch mit einer Polarisierung unserer Gesellschaft einhergehen. Abschließend steht die Frage im Mittelpunkt, welche Rolle religiöse Vielfalt und der Umgang mit ihr für das generalisierte Vertrauen und damit einen gelingenden Zusammenhalt spielen.

Ein zentraler Befund der Untersuchung sei hier bereits vorweggenommen: Auch wenn
das Recht der Religionsfreiheit breite Zustimmung erfährt, ist der gesellschaftliche Konsens in dieser Hinsicht keineswegs selbstverständlich. Eine differenziertere Analyse im Zeitvergleich lässt erkennen, dass die Offenheit gegenüber anderen Religionen abgenommen hat. Zu befürchten ist, dass sich das langfristig auch auf die Akzeptanz religiöser Vielfalt auswirkt – vor allem dann, wenn Religion nicht nur privat, sondern öffentlich sichtbar gelebt wird. In einer Gesellschaft, die bleibend durch religiöse Vielfalt geprägt sein wird, hängt die Qualität des sozialen Miteinanders aber entscheidend von der Anerkennung – und nicht nur Duldung – dieser sichtbaren Vielfalt ab. Nicht zuletzt deswegen muss eine Politik des Zusammenhalts heute religionspolitischen Fragestellungen besondere Aufmerksamkeit schenken. Zudem muss sich die Politik, aber auch die Religionsgemeinschaften damit auseinandersetzen, wie fundierte interreligiöse Wissensbestände entwickelt und mehr Gelegenheiten für Kontakte zwischen den Religionen – und auch zu Religionsfernen – geschaffen werden können. „