Modern, religiös, vernünftig – Modernes religiöses Denken für junge Muslime in Deutschland

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Kolumne von Dr. Musa Bağraç*

Der Islam hat kein religiöses Lehramt, kennt keinen Papst, keinen Stellvertreter auf Erden. Jeder Mensch kann eine Beziehung zu Gott aufbauen. Dem Koran zufolge sind Menschen Individuen, keine Verfügungsmasse. Dennoch führen sich viele muslimische Kleriker auf als seien sie Makler Gottes. Wer dies zu kritisieren wagt, endet mal als Apostat.

Als Religionspädagoge frage ich mich auf dem Hintergrund meines Studiums der religiösen Schriften oft, wie ein modernes religiöses Denken für junge Muslime in Deutschland aussehen kann? Warum mich diese Frage beschäftigt, hängt mit der unmittelbaren Entwicklung der Muslime in Deutschland zusammen.

Derzeit leben rund 4.5 Millionen Muslime in Deutschland. Davon sind die überaus große Mehrheit Nachkommen einstiger Gastarbeiter, die in der Nachkriegszeit nach Deutschland kamen und blieben. Seither haben sich gläubige Muslime vornehmlich in Moscheegemeinden organisiert und bewahren ihren Glauben so wie sie ihn aus dem Herkunftsland kannten.

Jahrzehntelang blieben Moscheegemeinden stabil. Seit mindestens einem Jahrzehnt befinden sie sich im leisen Umbruch. Das religiöse Leben in den Moscheen bietet der Lebenswirklichkeit der jungen Muslime keine richtigen Antworten mehr, weshalb der Nachwuchs in Moscheen schrumpft. Auf der Suche nach dem ‘wahren Islam’ verirrt sich ein Teil von ihnen in radikale Gruppen, ein anderer Teil zieht sich still vom religiösen Leben zurück.

Wiederum viele junge Muslime wünschen sich beides: Einheimisch modern sein und den Glauben leben! Hierfür finden sie bei Moscheegemeinden keine wirkliche Unterstützung. Daher suchen sie im öffentlichen Raum nach Alternativen. Dieser Suchprozess wird nicht nur die Vielfalt der hiesigen Muslime noch sichtbarer machen, er wird auch viele verunsichern.

Wie jede Suche wird auch diese womöglich ein goldenes Jahrzehnt für junge Muslime einläuten. Wir können jetzt schon auf einen neuen Muslimtypus europäischen Zuschnitt gefasst sein, der modern, religiös und vernünftig ist. Klar ist auch, dass jeder innovative Prozess auch Gegenbewegungen hervorruft. Daher will ich in Kürze meine Gedanken mitteilen, welche Eckpfeiler eines modernen religiösen Denkens junge Menschen auf ihrem Weg unterstützen könnten:

Individualität des Glaubens und der Verantwortung

Individualität und Selbstverwirklichung sind Hauptmerkmale moderner Gesellschaften. Hiesige konservative Muslime und Islamverbände hingegen sehen im Gemeindeleben den alleinigen Ort eines wahrhaften Glaubens. Wollen junge Muslime ihren Glauben leben, müssen sie ihre individuellen Ansprüche zum Wohle des Gemeindelebens aufgeben, da Individualität als Egoismus bewertet wird. Der Koran hingegen unterstreicht die Subjektivität des Glaubens, der als Folge eines persönlichen Verstehensprozesses verstanden wird. Genauso unterstreicht der Koran auch die individuelle Verantwortung fürs Diesseits von Eden. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe bzw. Gemeinde gilt im Jenseits nicht als Persilschein. Ein subjektbezogenes Verständnis von Glaube und Verantwortung eröffnet jungen Muslimen Räume zur Selbstverwirklichung. Die Individualität des Glaubens und der Verantwortung lässt sich auch als eine Absage an kollektivistische Vereinnahmung durch konservative Heimatgemeinden verstehen.

Trennung von Religion und Staat

In modernen westlichen Gesellschaften sind Staat und Religion nicht nur voneinander getrennt, sondern interagieren miteinander auch in einem rechtlich genau geregelten Rahmen. Im althergebrachten Weltbild der muslimischen Heimatgemeinden bilden Religion und Staat eine Einheit, die Grenzen sind nicht abgesteckt. Daher darf die Forderung sich zur Verfassung zu bekennen nicht überhört werden. Ein genauerer Blick in den Koran verrät jedoch, dass er sich zu Glauben, Ritus und Moral direkt und detailliert äußert, aber auf Politik bezogen nur auf universelle Prinzipien wie z.B. Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit usw. verweist. Sowohl die Zeit des Propheten (570-632) als auch die Ära der „rechtschaffenen Kalifen“ (632-660) zeigen, dass die Religion des Islams keine politische Herrschaft anstrebt. Stattdessen soll man sich in vernunftorientierten Diskussionen für die bestmögliche politische Herrschaft entscheiden. Die Trennung von Staat und Religion ist eine klare Absage an die Ideologie des Islamismus, die das Streben nach politischer Macht als religiöse Pflicht ansieht.

Unterscheidung zwischen Glauben und Handeln

Der Salafismus, der viele junge Muslime in seinen Bann zieht, setzt Glaube und Handeln gleich. Sie bilden eine untrennbare Einheit. Man ist bspw. gläubiger Muslim, weil man betet; wer es nicht tut, ist kein Muslim. Doch der Glaube ist ein dynamischer Prozess und kein endgültiger Zustand. Diese Feststellung und dieser Freiraum geben jungen Muslimen die Möglichkeit ihre Persönlichkeit zu entwickeln und zu stärken, ohne eine Apostasie-Keule befürchten zu müssen. Daher ist die Unterscheidung zwischen Glauben und Handeln eine Absage an den buchstabengetreuen Salafismus.

Das hier kurz in Form von drei Säulen skizzierte moderne religiöse Denken wurde vor mehr als 1000 Jahren von dem rationalistischen Theologen al-Maturidi (gest. 944) entwickelt. Seine Ideen gewinnen im Fachpublikum erneut  Beliebtheit und wirken sehr erhellend, auch wenn diese angesichts der Moderne und der gesellschaftlichen Heterogenität neu bewertet und weiterentwickelt werden sollten. Jungen Muslim*innen wird es dadurch ermöglicht, modern und religiös zugleich zu sein.

*Musa Bağraç ist ein promovierter Religionspädagoge und Lehrer für Sozialwissenschaften, Pädagogik, Islamischen Religionsunterricht und Praktische Philosophie in Nordrhein-Westfalen.