Tworuschka: „Der Islam hat Europa bereichert und ist ein Teil deutscher Geschichte.“

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Interview mit Monika und Udo Tworuschka

Über den Islam wird gegenwärtig kontrovers diskutiert. Viele verbinden mit ihm in einseitiger Weise Gewalt und Unterdrückung. Der islamische Religionspädagoge und Vorstand von INTR°A Muhammet Mertek hat darüber mit den renommierten Religionwissenschaftlern und Islamexperten Monika und Udo Tworuschka  gesprochen. Tworuschkas haben dazu gerade ein markantes Buch veröffentlicht, dass sich kritisch mit gängigen Vorurteilen gegenüber dem Islam auseinandersetzt.

Muhammet Mertek, INTR°A: Sie haben vor kurzem das Buch „Der Islam. Feind oder Freund. 38 Thesen gegen eine Hysterie“ veröffentlicht. Ich möchte meine Fragen an Sie zur aktuellen Situation des Islam vor allem anhand Ihrer Thesen in diesem Buch stellen. Zunächst: Ich habe Ihr Buch mit großem Interesse gelesen. Ihre Beschreibung schon im ersten Satz, dass Sie kein „islamkritisches Buch“, sondern ein „kritisches Islambuch“ verfasst haben, finde ich sehr treffend. Was wollten Sie damit sagen?

Monika und Udo Tworuschka: Der Begriff Islamkritik ist in Deutschland durch eine Handvoll muslimischer und nicht-muslimischer AutorInnen besetzt, die man „Panikmacher“ nennen kann. Diese treten entweder als unseriöse Stimmungsmacher auf, brechen kühl kalkulierend (angebliche) Tabus. Mit reißerischen Titeln, unwissenschaftlichem Rassengeschwätz, Halbwissen, groben Sachfehlern, verschwörungstheoretischen Behauptungen kann man Dauergast in Talkshows werden.

Das Gesicht einer bedeutenden Religions- und Kulturtradition wollen wir zeigen – nicht aber diese Fratze des Islam. Im übertragenen Sinn bezeichnen Fratzen verunstaltete, verzerrte, hässliche, teuflische, schädliche und angsteinjagende Auswirkungen einer Ideologie. „Islamkritiker“ stellen diese Fratze des Islam in den Fokus. Es hat sich in unserem Land eine Grundstimmung ausgebreitet, die jede nur halbwegs positive Äußerung zum Islam als „Zugeständnis“, gar als „Kapitulation“ wertet. Eine solche Disponiertheit hat hysterische Züge, führt zu einem Tunnelblick, wo die Maßstäbe zum Teil völlig verrutscht sind. Wir wollen versuchen, dem Islam wieder ein Gesicht zu geben, in erster Linie sind es ja unterschiedliche Gesichter.

Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, ein solches Buch zu schreiben?

Wir beschäftigen uns seit über 40 Jahren mit dieser Thematik, insbesondere im Kontext von Erziehung, Bildung, Schule. Wir haben darüber einige Bücher geschrieben, sind bei Lehrer*innenfortbildungsveranstaltungen, in Hörfunk und Fernsehen aufgetreten. Wir haben ca. 15 Jahre lang zusammen mit unserem Mentor und Freund (vor fünfzehn Jahren standen wir übrigens an seinem Ehrengrab in Isfahan), dem Islamwissenschaftler Abdoldjavad Falaturi (1926-1996), zwei große, seinerzeit einflussreiche Schulbuchanalyseprojekte über „Islam in den Schulbüchern der Bundesrepublik Deutschland“ geleitet. Herausgekommen ist ein siebenbändiges Werk im heute sogenannten „Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung“. Und immer wieder, bei jeder Krise, an welcher der Islam auch nur irgendwie beteiligt war, hatten wir den Eindruck: Unsere Arbeit ist umsonst gewesen. Denn alle mühsam beseitigten Vorurteile erlebten jedes Mal ihre fröhliche Auferstehung.

Da reifte während der unsäglichen öffentlichen Stimmungsmache gegen den Islam im Anschluss an die Flüchtlingskrise (2015) in uns der Entschluss, in einem handlichen Buch alle wichtigen negativen Urteile und Vorurteile zusammenzustellen und wissenschaftlich zu kommentieren.

Wer sollte Ihrer Meinung nach Ihr Buch dringend lesen? Und warum?

Unsere führenden Politiker, damit sie den Islam und die in unserem Land lebenden Muslime besser verstehen. Damit sie begreifen, dass der Islam Europa kulturell bereichert (hat) und Teil der deutschen Geschichte ist. Das Buch könnte sie befähigen, ihre Voreinstellungen zu revidieren und neue Perspektiven zu gewinnen. Vor allem aber könnte das in dem Buch präsentierte, knapp zusammengefasste Fachwissen zu der Erkenntnis führen, dass die meisten Prinzipien der islamischen Ethik mit deutscher Kultur und ihren Werten vereinbar sind.

Prof. Dr. Udo Tworuschka

Muslime und Nichtmuslime sollten im Gespräch offen und ehrlich mit den Vorbehalten und Ängsten des anderen umgehen. Man sollte unterschiedliche Auffassungen nicht verschweigen, aber respektieren. Hilfreich ist das Zugeständnis: Sowohl in der christlichen als auch in der islamischen Geschichte und Gegenwart hat es problematische Strömungen und unheilvolle Verflechtungen von Religion und Machtpolitik gegeben und es gibt sie weiterhin. Gelungene Gespräche und Begegnungen, Offenheit bei kritischen Fragen, gemeinsame Projekte, gute Nachbarschaft, Zusammenarbeit in Gemeinden, Kindergarten, Schulen und sozialen Einrichtungen tragen dazu bei, sich besser zu verstehen und noch mehr auf den anderen zuzugehen. Dafür gibt es genügend praktische Beispiele!

Sie stellen Ihr Buch als „aufklärend, provokativ, versöhnend“ vor. Mit welchen Erwartungen?

Aufklärend ist das Buch insofern, als wir eine Reihe von angeblichen Fakten zurechtrücken, korrigieren und relativieren. Trotz jahrzehntelanger Aufklärungsarbeit, an der wir uns aktiv beteiligt haben, werden über den Islam nach wie vor falsche Informationen bzw. Halbwahrheiten verbreitet. Unser Buch spitzt bewusst zu, will durchaus provozieren, weil sich so die Menschen besser als durch längere Ausführungen erreichen lassen. Wer dieses Buch sinnentnehmend liest, hat gute Chancen, seine Voreinstellungen zum Islam zu revidieren und offener auf Muslime zuzugehen. Deshalb ist unser Buch auch versöhnend.

Was für ein Feedback haben Sie von Muslimen bekommen? Können Sie einige beispielhafte Reaktionen nennen?

Viele Muslime sind angesichts des in den letzten Jahren geführten Islamdiskurses „gebrannte Kinder“. Ein Buch wie unseres mag daher als wohltuende Ausnahme empfunden werden. Daher haben vor allem dialogbereite Muslime dieses Buch als wohltuend und versöhnend begriffen. Die islamischen Medien in Deutschland haben unser Buch positiv aufgegriffen und unser Anliegen verstanden. Unser Interview für al-Qantara (Deutsche Welle) gehörte einige Zeit zu den „meistgelesenen“ Interviews. Die nicht-islamischen Medien haben unser Buch bislang „geschnitten“ – ein Totalausfall sind dabei die evangelischen Medien…

Sie sagen, dass „die meisten Prinzipien der islamischen Ethik mit deutscher Kultur und ihren Werten vereinbar sind“. Sie nennen auch einige Beispiele. Können Sie das etwas genauer erläutern?

55 Prozent der „praktizierenden Christen“ sind der Auffassung, dass der Islam grundsätzlich schwer mit der deutschen Kultur und deutschen Werten vereinbar sei. Doch ergeben sich schon aus dem Glauben an den einen Gott eine Fülle von Gemeinsamkeiten hinsichtlich Leben, Mit- und Umwelt. Der Glaube an Gott als barmherzigen Richter veranlasst Muslime zu einem geschärften Verantwortungsbewusstsein, zu einer am Wohl des Menschen orientierten Ethik. Der Islam kritisiert Götzendienst, Mord, Verleumdung, üble Nachrede, Unzucht, Spott, Neid, Lüge, Hochmut und Stolz, Tyrannei, Verschwendung, Alkohol und Glückspiel. Er fordert Ehrlichkeit, Selbstprüfung, Geduld, Nachsicht, Vergebung, Bescheidenheit, Nächstenliebe: „Ihr könnt nicht ins Paradies, ohne zu glauben, und ihr könnt nicht glauben, ohne einander zu lieben“ – so lautet eine Überlieferung nach Muslim, Abu Dawud und Tirmidhi. Der Koran empfiehlt Juden, Christen und Muslimen, in den guten Dingen zu „wetteifern“. (Sure 2,148). Sure 17, 21-38 enthält eine den Zehn Geboten vergleichbare Wertetafel. Zu den wichtigsten Beispielen der Praxis gehören die im Islam stark ausgeprägte Brüderlichkeit, soziale Verantwortung und Hilfsbereitschaft.

Das Weltbild vieler Islamkritiker, das den Islam als „barbarisch, irrational, primitiv, sexistisch und homophob“ darstellt, bezeichnen Sie als „Islam-Maschine“. Dies ist ein Zerrbild, andererseits gibt es aber auch Geschehnisse in den muslimischen Gesellschaften, die dieses Bild vom Islam unterstützen. Viele Muslime setzen sich nach meinem Eindruck nicht kritisch mit den primären Quellen des Islams und ihrem Verhältnis zu Vielfalt, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschenrechte etc. auseinander. Es bedarf mehrheitlich noch eines Paradigmenwechsels in den Köpfen hinsichtlich moderner Demokratie und historisch-kritischer Theologie. Ist dies überhaupt möglich, und wenn ja, was müssen Muslime dafür tun?

Das ist zugegebenermaßen ein heikles Thema. Die Situation der Menschenrechte ist in vielen islamischen Ländern problematisch. Auch werden immer wieder im Namen des Islam Verbrechen begangen. Dabei sollte man jedoch nicht außer Acht lassen, dass auch den meisten Muslimen diese Diskrepanz zwischen Lehre und manchmal fehlgeleiteter Praxis durchaus bewusst ist! Zum anderen ist der Missbrauch der Religion nicht nur für den Islam nachweisbar. Nachdrücklich möchten wir darauf hinweisen, dass gerade die politischen Parteien, die sich selbst als christlich bezeichnen, die Werte dieser Religion oft missachten. Man konnte das fast schon paradigmatisch an der aktuellen Diskussion der Flüchtlingsfrage verfolgen. Wir haben den Eindruck, dass die Linke eher die Ideale der Bergpredigt realisieren möchte als die Vertreter sogenannter christlichen Parteien.

Was die kritische Auseinandersetzung mit Quellen und Vielfalt betrifft, weisen wir auf die Thesen des Münsteraner Arabisten und Islamwissenschaftler Thomas Bauer hin. Er hat nach einer Untersuchung von 1000 Jahren islamischer Kulturgeschichte überzeugend nachgewiesen, dass es in der islamischen Geschichte lange Zeit eine Kultur der Ambiguität gab, die widerstreitende Normen nebeneinander duldete. Auch bei Korankommentaren akzeptierte man über Jahrhunderte mehrere Interpretationen nebeneinander. Erst während der Auseinandersetzung mit Europa verloren viele Muslime diese Ambiguitätstoleranz. Wenn wir eine Veränderung in den Köpfen der Muslime erwarten, brauchen wir neben Geduld vor allem eine Politik im Nahen Osten, die nicht von Machtinteressen und Wirtschaftsvorteilen des Westens bestimmt wird, sondern die demokratiewilligen Muslime nachhaltig unterstützt.

Viele gegenwärtige innerislamischen Konflikte haben einen historischen Ursprung. Im Lauf von über tausend Jahren sind auf dem Hintergrund historischer Umbrüche und Krisen ganz unterschiedliche islamischen Richtungen, Rechtsschulen und theologische Schulen entstanden. Damit ohnehin verbundene Konflikte haben sich gegenwärtig zugespitzt und insgesamt zu einer großen Krise geführt. Können Muslime überhaupt mit eigener Dynamik und eigenen Kräften aus dieser Krise herauskommen? Können sie in den letzten Jahrhunderten, seit der Aufklärung und Industrialisierung, Versäumtes aufholen?

Die Frage ist zu allgemein und komplex, um hier eine befriedigende Antwort geben zu können. Wir bezweifeln auch, dass die verschiedenen Konflikte zu einer großen Krise geführt haben. Jedes betroffene Land hat eine Fülle eigener, hausgemachter Probleme und darüber hinaus solche, die es mit anderen Ländern der Region teilt. Wir dürfen nicht den Fehler begehen, diese Fülle von Problemen auf seine religiösen Aspekte zu reduzieren. Der Faktor Religion sollte keinen Masterstatus bei der Erklärung von Problemen besitzen, obgleich die Religion einem Konflikt große Intensität und Emotionalität verleihen kann. Religiöse Konflikte werden oft von ethnischen Konflikten überlagert. Viele Großreiche wurden durch ein ausgeklügeltes System der Toleranz und Unterdrückung zusammengehalten. Erhalten Teile dieser Reiche ihre Unabhängigkeit, brechen die Strukturen auseinander und es kommt bei der Besinnung auf die eigene religiöse und kulturelle Identität zu neuen Spannungen und Konflikten. Nur die Muslime selbst beziehungsweise auch die nichtmuslimischen Bürger islamischer Länder können diese Konflikte lösen! Nicht Fremde, die vermeintlich probaten Lösungsmodelle aufzwingen.

Kann man sagen, dass sie gegenüber den Islamkritikern die Rolle eines Anwalts des Islams übernommen haben? Ich habe den Eindruck, dass die öffentliche Debatte über den Islam Sie sehr verärgert hat, z.B. wenn Sie – m.E. vollkommen zutreffend – sagen, dass „Islamfeindlichkeit, Rassismus und rechte Gesinnung längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind und die Medien keine Islamdebatte, sondern eine Islambild-Debatte führen.“ Auf diesem Hintergrund fühlen Sie sich offensichtlich verantwortlich den Islam in seiner Eigenschaft als Religion zu verteidigen und die Muslime zu unterstützen. Sind die Mehrheit der hier lebenden Muslime nicht in der Lage sich und ihre Religion zu verteidigen? Was müssten sie dafür tun?

Es mag zutreffen, dass wir uns in gewisser Weise als Anwälte fühlen – aber nicht, weil uns von Muslimen dazu ein Mandat übertragen worden wäre, sondern weil uns über mancherlei Ungerechtigkeiten und Gemeinheiten in der Darstellung des Islam betroffen machen. Inwieweit die Mehrheit der hier lebenden Muslime in der Lage ist, die eigene Religion zu verteidigen, können wir nicht beurteilen. Es gibt jedoch eine erfreulicherweise wachsende, längst nicht mehr unerhebliche Anzahl von Musliminnen und Muslimen, die das gut können.

Der Islam lässt sich gegenwärtig auch gut vermarkten. Es erscheinen unzählige Bücher dazu. Zu den Autoren gehören auch diejenigen, die sich selbst als „liberale Muslime“ bezeichnen. Sie beanspruchen die religiöse Liberalität für sich und stellen sich gegen die übrigen Muslime. Sie werden immer wieder als Islamexpertinnen und Islamexperten gefragt, sind ständig in den Medien präsent und prägen weitgehend die öffentlichen Diskurse über den Islam, haben aber bei den meisten Muslimen kein gutes Image. Gibt es Ihrer Meinung nach wirklich einen säkularen oder liberalen Islam? Und kann der Islam – trotz der mehrheitlichen Prägung – tatsächlich reformiert bzw. liberalisiert werden?

Das Problem besteht darin, wie man die Begriffe „Reform“ und „liberal“ definiert. Nichtmuslime haben dabei oft eine einseitige Anpassung an die westlich/ christliche Gesellschaft bzw. den Verzicht der Muslime auf traditionelle Normen und Verhaltensweisen vor Augen. In manchen Fällen, in denen islamische oder traditionell für islamisch gehaltene Normen im Widerspruch zum Grundgesetz unseres Landes stehen, ist diese Forderung gerechtfertigt. Doch haben sich manche so genannten Reformer, die zum Teil „Islamhasser“ sind, wohl längst innerlich von ihrer Religion verabschiedet, so dass sie für die Muslime, die ihren Glauben ernst nehmen, keine geeigneten Gesprächspartner mehr darstellen. Da diese Vertreter*innen meist keinen Rückhalt in der islamischen Community haben, ist ihr Wert als Ansprechpartner*in auch für die Politik gering. Diesen Personenkreis würden wir auch nicht liberal nennen; denn hinter liberalen Kreisen stehen unserer Einschätzung nach ernsthafte Muslim*innen, die aus innerer islamischer Überzeugung, also aus Glaubensgründen, im Clinch mit traditionellen, konservativen Islamauffassungen leben. Dass sie viele Ansichten vertreten, die dem Mehrheitsislam in Deutschland auch zuwiderlaufen, sollte man in einer ruhigeren Atmosphäre als Chance eines innerislamischen Dialogs werten. Solche Zerreißproben gibt es auch in anderen Religionstraditionen. So hat die historisch-kritische Bibelkritik im protestantischen Raum die Gläubigen polarisiert. Die Glaubenseinstellung von Mitgliedern aus den Reihen der Freikirchen, evangelikalen Gemeinden, charismatischen Bewegungen unterscheidet sich zum Teil nicht unbeträchtlich von der anderer Protestanten. Die Spannungen im derzeitigen Katholizismus (Strittige Themen: Lebensform der Bischöfe und Priester, Sexualmoral, Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche) zwischen sog. Reformern und sog. Hardlinern sind nicht zu übersehen. Als Religionswissenschaftler regt uns das überhaupt nicht auf: Das sind Vorgänge, wie sie typisch für jede lebendige Religionstradition sind. Es ist geradezu spannend zu sehen, wohin solche Entwicklungen führen. Muslime und Musliminnen sollten gelassener werden gegenüber Wandlungsprozessen in ihrer eigenen Tradition. Die hat es dort immer gegeben.

In Deutschland wird eine gesellschaftspolitische Integrationsdebatte geführt, die nicht zu einem „Wir-Gefühl“ führt bzw. die verhindert, dass sich Muslime mit Deutschland identifizieren können. Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Und woran vor allem scheitert die Integration der Muslime? Wie kommt es, dass Muslime in Deutschland sich immer wieder diskriminiert und nicht in ihrem Sosein akzeptiert fühlen?

Viele Muslime in Deutschland werden auf ihren Status als Muslime oder als Flüchtlinge reduziert. Der Islam wurde seit seiner Entstehung – von toleranten Phasen einmal abgesehen – oft mit Vorurteilen betrachtet. Seit der verstärkten Zuwanderung der Flüchtlinge machen sich bei vielen Bürgern diffuse Ängste über Massenzuwanderung, vermeintlicher Überfremdung, Zunahme an Gewalt breit. Dass sich Muslime dadurch diskriminiert fühlen bzw. oft massiv diskriminiert werden (man denke an die rechtsextremistisch motivierten Angriffe auf Moscheen, die zum traurigen Alltag in Deutschland geworden sind), ist doch absolut nachvollziehbar!

Kindergärten, Schulen, soziale Einrichtungen und Vereine können dazu beitragen, die betroffenen Menschen als komplexe Wesen wahrzunehmen. Menschen handeln aus vielerlei Gründen: familiären, beruflichen, psychischen, sozialen, politischen, wirtschaftlichen – und auch religiösen Motiven. Ein Beispiel: Ahmad ist möglicherweise gleichzeitig ältester Sohn, Fußballfan, Computernarr, nerviger Bruder, gut in Physik und Mathe, Allergiker – und auch Muslim aus Syrien.

Ich glaube, im Hintergrund aktueller Debatten spielt das ungelöste Problem der Identität bei vielen Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine große Rolle. Ich habe auch den Eindruck, dass viele deutschstämmige Menschen ihre Identität über die Migranten bzw. Ausländer definieren. Wie stellen Sie sich eine gesunde Identität und Identitätsbildung vor, die den jeweils unterschiedlichen Lebenslagen gerecht wird?

Das ist eine schwierige Frage, die wir nur schwer beantworten können. Eine gelingende Identitätsbildung kann wohl nur stattfinden, wenn Menschen sich angenommen fühlen. Man muss also bereits in der Kita damit anfangen, Menschen aus anderen Religionen und Kulturen ernst zu nehmen. Man muss versuchen ihre Ansichten zu verstehen, vielleicht gemeinsam mit ihnen Feste zu feiern. Wir könnten uns vorstellen, dass auch nichtmuslimischen Kindern kindgerechte Hadithe erzählt werden. Es gibt viele Geschichten, die Mohammed als Tierfreund beschreiben. So könnte man vermeiden, dass Mohammed – wie leider oft – auf seine Stellungnahme zur Frau und Feldherrenrolle reduziert wird. Sportvereine könnten hier einen wichtigen Beitrag leisten.

Das Identitätsproblem insbesondere in Diaspora führt oftmals zur Überbewertung von Religion und Nationalität, wie wir in letzten Jahren bei türkischen Jugendlichen beobachten konnten. In den Moscheen werden diese Orientierungen stark unterstützt und gefördert. Wie könnten die jungen Muslime eine Identität ausbilden, die im Einklang mit der hiesigen Gesellschaft, d.h. u.a. demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien steht?

Wichtig wäre es, mit den Vertretern der Moscheen in Dialog zu treten, solche sicher nicht unzutreffenden Befürchtungen auszusprechen. Das ist sicher oft eine Gradwanderung.

Viele Muslime winken sofort ab, wenn sie mit Aussagen wie „islamistischer Terrorismus“ oder „Kopftuch ist ein Symbol der Unterdrückung der Frau“ konfrontiert werden. Sie sagen dann, dass Gewalt, Terror, Unterdrückung der Frau nichts mit dem Islam zu tun habe und der Islam an sich eine friedliche Religion sei. Dabei wird die Frühgeschichte auch übertrieben idealisiert, ohne sich mit den tatsächlichen damaligen Ereignissen auseinanderzusetzen. Wie sollen Muslime mit ihrer eigenen Geschichte umgehen?

Hier wäre eine kritische Auseinandersetzung sicherlich wünschenswert. Diese wäre leichter, wenn man die Probleme von vielen Seiten, also multiperspektiv, beleuchtet. Alle Beteiligten sollten die Möglichkeit haben, einen offenen Beitrag zu leisten. Wenn man erreichen könnte, dass Muslime sich nicht in einer Dauerdefensive fühlen und es als normal angesehen wird, Fehlverhalten in der eigenen Tradition zuzugeben, dann würde es Musliminnen und Muslimen ganz sicher leichter fallen, die eine oder andere berechtige kritische Stellungnahme zur eigenen Religion zuzulassen.

Monika und Udo Tworuschka haben viele bahnbrechende Bücher zum interreligiösen Dialog und zu religionswissenschaftlichen und religionspädagogischen Fragen in diesem Zusammenhang veröffentlicht. Beide gehören zu den ausgewiesensten Experten für dieses Feld in Deutschland und darüber hinaus. Udo Tworuschka hat sich zudem als Vertreter einer “praktischen Religionswissenschaft” einen Namen gemacht, ist über lange Jahre Vorsitzender von INTR°A gewesen und dann 2019 zum Ehrenvorsitzenden von INTR°A gewählt worden.
Weitere Informationen zu Monika und Udo Tworuschka finden sie
hier

Redaktion: Muhammet Mertek und Achim Riggert