Rabindranath Tagore – Wegbereiter des interreligiösen Dialogs

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R. Tagore und M.Gandhi

Martin Kämpchen, Rabindranath Tagore – Wegbereiter des interreligiösen Dialogs, 2016*

Einleitung von INTR°A (Achim Riggert):

Wir dokumentieren hier einen weiteren Beitrag von Martin Kämpchen, einem führenden Protagonisten des christlich-hinduistischen Dialogs und Schriftstellers, der seit Jahrzehnten in Indien lebt und sich in zahlreichen Veröffentlichungen für ein besseres Verständnis der indischen Kultur und Religiösität eingesetzt hat. Näheres zu Kämpchens Biographie s. hier ; eine Liste seiner Schriften s. hier.

Kämpchen zeichnet in diesem Aufsatz das Leben und Wirken des weltberühmten indischen Dichters und Brückenbauers Rabindranath Tagore (1861-1941) nach, der 1913 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde und sich in seinen Werken immer wieder auf unverwechselbare Weise für den interreligiösen Dialog eingesetzt hat. Kämpchen selbst lebt in Indien in dem Ort Santinketan, 150 km nördlich von Kalkutta, wo R. Tagore von 1901 bis zu seinem Tod 1941 gelebt und gewirkt und u.a. eine Welt-Universität begründet hat.

Im ersten Abschnitt seines Beitrags schreibt Kämpchen über den Hintergrund und die Bedeutung von Tagore:

“Als Rabindranath Tagore im Jahr 1861 in Kalkutta geboren wurde, hatte das indische
Kolonialreich der Engländer seine Macht konsolidiert; Kalkutta war die Hauptstadt des
Imperiums, das die Territorien des heutigen Bangladesh, Indien und Pakistan umfaßte.
Dominant war der Hinduismus mit seiner Vielzahl von Göttinnen und Göttern, von Kulten
und Riten, seinen magischen Vorstellungen und vor allem seinen antimodernen sozialen
Praktiken. Die Engländer errichteten in den Städten englischsprachige Schulen nach dem Vorbild ihrer heimatlichen Schulen und die christlichen Missionare unterstützten die Kolonialregierung darin. Die neue Elite der bengalischen Gesellschaft wurde Englisch erzogen und ahmte meist in Sprache und Sitten die britischen Herrscher nach. Diese Begegnung mit der westlichen Moderne des 19. Jahrhunderts gab auch den Impuls, den Hinduismus und die hinduistische Gesellschaft zu reformieren.

Dieses als dringend empfundene Unternehmen führte zur Gründung des Brahmo Samaj durch Raja Rammohan Roy (1772 – 1833) im Jahr 1828 in Kalkutta. Roy, hoher Beamter der East India Company, wurde ein führender Sozialreformer und Gelehrter Bengalens. Der Brahmo Samaj richtete sich im Sinne westlich aufgeklärter Ideen gegen die sozialen Übel im Hinduismus wie Witwenverbrennung (Sati), Kinderheirat, Mitgift, die Verehrung unzähliger Götterbilder und Götterstatuen (Polytheismus), gegen Ritualismus und insbesondere gegen das Kastenwesen. Der Samaj setzte sich für die Emanzipation der Frauen und allgemein für bessere Bildung nach dem britischen Schulsystem ein. Aus diesem Programm entstand, was man später die „Bengalische Renaissance“ nennen würde. Insbesondere durch ein wichtiges Mitglied, Keshab Chandra Sen, gefördert, wurden auch christliche Elemente integriert.

Die Mitglieder des Brahmo Samaj folgten einer monotheistischen Religion, die sich auf die
Upanishaden stützten. Die Upanishaden (entstanden zwischen 800 und 200 vor Chr.) gehören zu den bedeutendsten heiligen Schriften des Hinduismus. In ihnen gibt meist ein Rishi (Weiser, Guru) Schülern und Schülerinnen in einem Gespräch von Fragen und Antworten Unterweisung. Typischerweise fanden diese Gespräche in Ashrams statt, das heißt in lockeren monastischen Lebensgemeinschaften, die sich um einen männlichen oder weiblichen Guru scharten und die dessen Lebensregeln folgten. Die Upanishaden lehren vornehmlich die Verehrung eines unpersönlichen Gottes, der sich durch Verinnerlichung und Meditation in der Seele der Menschen manifestiert. Diese mystisch geprägte Spiritualität ist die Antwort auf die vorangegangene Epoche, in der ein übertriebener Ritualismus, verbunden mit Magie, vorherrschte. Die Upanishaden sind in allen Zeitaltern rezitiert, erklärt und interpretiert worden. Aus ihnen haben sich die sechs Schulen der indischen Philosophie entwickelt, die bis heute lebendig sind. Die Rezitation der Upanishaden war wesentlicher Teil des Gottesdienstes der Brahmos (Mitglieder des Brahmo Samaj).
(…)

Rabindranath Tagore hat sich zeitlebens in dieser liberalen, sozial fortschrittlichen,
monotheistisch geprägten Reformreligion des Brahmo Samaj beheimatet gefühlt. Er gilt als
Sonderform des Hinduismus, ist aber heute fast nicht mehr aktiv. Als Brahmo hat Rabindranath Tagore den Buddhismus, das Christentum, den Islam und andere Religionen studiert, hat von ihnen gelernt und ist mit ihren Vertretern in einen Dialog getreten. Dem Ethos des Hinduismus folgend hat Tagore seine Religion nicht als die „einzige“ oder „einzig wahre“ angesehen. Wichtig ist, daß er viele der sozialen Praktiken des Hinduismus – vor allem Tempelbesuch, Befolgung von Riten, Bilderverehrung, Beachtung des Kastenwesens – in seinem Werk und seinem sozialen Handeln abgelehnt und bekämpft hat.

Mit dreißig Jahren hat Rabindranath, damals schon der führende Lyriker seiner Sprache, die
schützende und fördernde Sphäre seiner Familie in Kalkutta verlassen und ist auf Wunsch seines Vaters Debendranath nach Nordbengalen an das Ufer der Padma gezogen (im heutigen Bangladesh), um die Ländereien der Familie zu beaufsichtigen. Er kam mit den Pachtbauern, mit dörflicher Armut, mit konservativen Wertvorstellungen im gesellschaftlichen und rituellreligiösen Leben in Kontakt.

Zehn Jahre später, im Jahr 1901, siedelte Tagore mit seiner Familie nach Santinketan, 150 km nördlich von Kalkutta, um. In der dörflichen Umgebung gründete er eine Schule, die eine Alternative zu dem rigiden und oberflächlichen britischen Schulsystem sein sollte. Auf allen literarischen Gebieten kreativ und erfolgreich, schrieb er Gedichte, komponierte Lieder, schrieb und führte Theaterstücke und Tanzdramen auf, oft für seine Schülerinnen und Schüler, verfaßte Erzählungen und Romane, hielt Vorträge und veröffentlichte Essays. Beharrlich verfolgte und kommentierte er die politischen und sozialen Entwicklungen Indiens, das auf dem Weg zur Unabhängigkeit war. Rabindranath Tagore entfaltete ein universales Genie und blieb bis zu seinem Tod schöpferisch..

Der entscheidende Einschnitt in seinem Leben war die Verleihung des Nobelpreises für
Literatur im Jahr 1913, den er als erster Nicht-Europäer erhielt. Sein jäher Weltruhm veranlaßte ihn, während seiner neun großen Weltreisen als die Stimme Indiens und Asiens aufzutreten, auch als Vertreter und Verfechter des „spirituellen Indien“, der „Weisheit Indiens“. Ihm war bewußt, daß das „spirituelle Indien“ den westlichen Gesellschaften eine Art von geistiger Lebenserfüllung vermittelte, die sie zu jener Zeit – zwischen den Weltkriegen und im aufblühenden kapitalistischen Industriezeitalter – aus Eigenem kaum erreichen konnten.

Diese selbstgewählte Rolle führte dazu, daß Tagore, im Jahr 1921 in Santiniketan eine „Welt-Universität“ zu gründen – Visva-Bharati – die es sich zur Aufgabe machte, Vertreter aus den verschiedenen Kulturen und Religionen der Welt einzuladen, damit sie ihre eigene Kultur und Religion vorstellen und darüber in einen Dialog treten können. Die Studenten waren gebildete Männer und Frauen hauptsächlich aus Kalkutta. Tagore war überzeugt, daß allein durch einen solchen Dialog ein Beitrag zum Frieden in der Welt und zur Abwehr der nationalistischen Bestrebungen inder Welt geleistet werden könne.

Im letzten Jahrzehnt seines Lebens hat Tagore seine religiöse Auffassung noch einmal neu
formuliert und sich – über den Brahmo-Glauben hinausgehend – zu einer noch stärker
universalisierten Religiosität bekannt, die er ausführlich in seinen Vorträgen (den Hibbert
Lectures an der Oxford-Universität) darstellt. Sie wurden revidiert und erweitert unter dem Titel The Religion of Man (1931) gedruckt. Sie wendet sich von allen historisch gewachsenen Religionen ab, die er jedoch nicht ablehnt, und betont stattdessen, daß Religion aus der spirituellen Erfahrung des Menschen entsteht.” (…)

Den vollständigen Beitrag von Kämpchen zu Tagore finden Sie hier .

* erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift Religionen unterwegs, 22. Jahrgang, Nr. 1, Sept. 2016