Gedenkrede zum 85. Jahrestag der Pogromnacht 9./10. November 1938

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Klagemauer in Jerusalem - Wand der Tränen

Gedenkrede zum 85. Jahrestag der Pogromnacht vom 9.11.1938
Gedenktafel Lüdenscheid, Stadtbücherei, 9.11.2023, 17:00 Uhr

Pfr. Achim Riggert

Lieber Herr Wagemeyer (BM), liebe Hella Goldbach (Vorsitz. Ges. für christl.-jüd. Zusammenarbeit), liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

wir sind hier zusammengekommen, um wie jedes Jahr an diesem Datum an den Auftakt der beispiellosen Verbrechen Nazi-Deutschlands, der Verfolgung und Vernichtung eines Großteils des europäischen Judentums, zu erinnern: Die Pogromnacht am 9. November 1938, vor genau 85 Jahren. In dieser Nacht wurden bekanntlich in ganz Deutschland Synagogen und jüdische Geschäfte angegriffen, verwüstet und angesteckt. Juden wurden verhöhnt, verschleppt und ermordet.

Es ist jedes Jahr aufs Neue notwendig an diese Verbrechen und die daraus erwachsende Verpflichtung zu erinnern. Aber in diesem Jahr ist die Dringlichkeit so groß wie nie, seit Jahrzehnten. Ich denke, wir alle bringen das Gedenken in diesem Jahr in Verbindung mit den barbarischen Akten, die vor gut einem Monat in Israel geschehen sind: Terroristen der Hamas attackierten israelische Zivilisten, drangen in ihre Häuser ein, quälten und massakrierten wahllos Menschen oder verschleppten sie, darunter auch Kinder und Babies, erschossen hunderte Teilnehmer eines Musikfestivals und verbreiteten in unfasslicher Grausamkeit Bilder von ihren Untaten in den Netzwerken und Kontakten der Opfer.

Diese Taten machen jeden einigermaßen zivilisierten Menschen fassungslos. Insbesondere weil sie vor allem auf das reine Töten von Israelis bzw. Juden zielten. So etwas ist durch nichts und niemand zu rechtfertigen. Es ist nichts anderes als ein horrendes Verbrechen gegen jede Menschlichkeit, das aufs Schärfste zu verurteilen ist.

Diese schrecklichen Terrorakte haben, denke ich, uns alle schockiert. Sie haben aber insbesondere fast alle Israelis, das ganze Land, wie ich selbst ziemlich direkt vor Ort miterlebt habe, in eine regelrechte Schockstarre versetzt. Die meisten Einwohner sind entsetzt und verstört ob der unfassbaren Grausamkeit und Brutalität der Angriffe. Jenseits auch nur ein Restes von Respekt vor menschlichem Leben. Die Gedanken und Sorgen sind bei den Entführten und ihren Angehörigen. Allerdings fragen sich viele zugleich, wieso die eigenen Sicherheitskräfte nicht zur Stelle waren.

Das, was fast alle erleben, rührt an die Grundlagen dessen, wofür auf dem Hintergrund der Shoah eine neue staatliche Existenz von Juden in Palästina vor 75 Jahren begründet wurde. Nämlich dafür, einen einigermaßen sicheren Ort zu schaffen, wo Juden ohne direkte Angst um ihre Existenz, ohne Angst vor Anfeindung, Verfolgung und Ermordung leben können. Trotz aller Kriege und Konflikte hatte man sich darauf immer noch irgendwie verlassen. Diese Verlässlichkeit ist jetzt grundlegend in Frage gestellt!

Besonders bedrückend und erschütternd dabei ist, wie unmittelbar die terroristischen Akte an das erinnern, was in der NS-Zeit geschehen ist. Zum Beispiel am heutigen 9.11.1938 vor 85 Jahren. Das Geschehene rührt direkt an alte Traumata und wirkt zutiefst verstörend. Wobei ich auch an diesem Gedenktag nicht verschweigen möchte, dass sich in diese Verstörung bei vielen Israelis auch Wut über die aktuelle israelische Regierung mischt, der völliges Versagen in entscheidenden Belangen des Landes vorgeworfen wird.

Wenn wir auf die Auswirkungen der Terrorakte und der jetzigen Kriegshandlungen für uns in Deutschland schauen, ist ein weiterer, besonders bedrückender Aspekt, dass dadurch jetzt antijüdische bzw. antisemitische Anfeindungen und Äußerungen wieder erheblich zugenommen haben und weiter zunehmen. Ich denke, wir alle haben die Bilder und Berichte dazu gesehen oder gehört: Antijüdische Schmierereien an Hauswänden, Antisemitische Parolen auf Schulhöfen und bei Demonstrationen, judenfeindliche Posts von Fußballspielern u.a. Dies führt dazu, dass sich Juden bei uns noch viel unsicherer fühlen als ohnehin schon vorher. Das habe ich gerade in erschütternder Weise in Hannover erlebt, als wir im Rahmen einer Fortbildung die dortige liberale jüdische Gemeinde besuchten. Der junge, eigentlich sehr locker wirkende Vertreter der Gemeinde erzählte, dass er seinen Kindern jetzt sage, in der Öffentlichkeit alles, was sie als Juden erkennbar mache, zu verbergen. Von anderen Familien in seinem Umfeld erzählte er, dass sie ihre Kinder gar nicht mehr zur Schule schicken. Angst und Verunsicherung seien sehr groß. Es war kaum zu ertragen, das so direkt zu hören. Eben weil es so direkt an die NS-Zeit, die sich ja nie wiederholen sollte, erinnert!

Ich denke, wir alle, die wir hier stehen, sind uns einig darin, dass wir alles tun müssen, um jeglicher Form von Antisemitismus und Judenfeindschaft in unserem Land zu wehren. Das ist unsere bleibende Verantwortung angesichts der NS-Verbrechen. Auch als sogenannte „Nachgeborene“. Und ich füge insbesondere für die Christen unter uns hinzu: Es ist Christenpflicht! Denn Judenfeinschaft und Antisemitismus sind zutiefst Unglaube, wie es ein Bekannter von mir und ehemaliger Leiter der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste einmal prägnant auf den Punkt gebracht hat.

Ich selbst arbeite als Pfarrer in der Schule und sehe z.B. eine besondere Aufgabe darin im Religionsunterricht über den jahrhundertealten christlichen Antijudaismus aufzuklären. Diese unselige Tradition hat viel Unheil angerichtet, bis hin zu Auschwitz, und muss endlich überwunden werden! In der Schule sind wir jetzt auch gefordert, über die Terrorakte und ihre Folgen zu reden. Dabei werden wir – zumindest punktuell – auch damit konfrontiert, dass einzelne Schüler oder Schülerinnen vor allem Israel und den Zionismus anprangern. Das stellt uns vor die schwierige Aufgabe, dem oder derjenigen den Unterschied zwischen berechtigter Kritik an israelischer Regierungs- und Verteidigungspolitik und generell juden- und israelfeindlichen Haltungen nahezubringen. Das ist äußerst mühsam und gelingt kaum. Differenzierung ist ja insgesamt schwierig im Moment. Aber ich meine, wir müssen es immer wieder versuchen!

Ich denke, das ist nur ein Beispiel für die vielen Stellen, an denen jetzt jede und jeder von uns gefragt ist, gegen judenfeindliche Tendenzen anzugehen! Auch bei uns selbst, zum Beispiel in unserem Sprachgebrauch. Es geht dabei, meine ich, nicht zuletzt um unsere zentralen Werte, um Toleranz, Offenheit und Menschenfreundlichkeit. Für die müssen wir jetzt einstehen. Im Blick auf alle antisemitischen Tendenzen, aber auch im Blick auf Tendenzen die gegenwärtige Lage insgesamt für menschen- bzw. ausländerfeindliche Propaganda auszunutzen! An wen ich da denke, brauche ich wohl nicht weiter ausführen .. Menschenfreundlichkeit und Toleranz sind letztlich unteilbar, meine ich.

Im Anschluss daran möchte ich schließen mit dem Verweis auf eine Holocaust-Überlebende, die jetzt 102 Jahre alt ist, über die jetzt ein Film im Fernsehen zu sehen war und über die in Zeitungen berichtet wurde: Margot Friedländer. Sie hat die Pogromnacht des 9. November 1938 direkt miterlebt, den Brandgeruch in der Luft eingeatmet, auf ihrem Weg zur Arbeit das Knirschen des Glases eingeschlagener Fenster unter ihren Sohlen gehört, wie es in einem Porträt von ihr heisst. Sie habe sich mit ihrem ganzen Leben zur Verfügung gestellt, dass sich diese Geschichte nicht wiederholt, heisst es in dem Porträt weiter. Dafür geht sie bis heute in Schulen. Und dann wird berichtet, dass sie auf die Frage, ob sie jetzt, angesichts der aktuellen Lage, nicht verzweifeln müsse, geantwortet habe: „Es ist fürchterlich, ganz fürchterlich. Wir sind doch Menschen. Man muss in dem anderen doch den Menschen sehen!“

Ja, genau, habe ich gedacht, als ich das las. Darauf kommt es an. Das ist eine entscheidende Lektion dieses Tages vor 85 Jahren! Mögen wir diese Lektion hören und beherzigen. Gerade in diesen Wochen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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Die gemeinsame Erklärung der Kirchen und der Politik in NRW zum 85. Jahrestag der Pogromnacht in diesem Jahr s. hier