Martin Kämpchen: Der Duft des Göttlichen. Indien im Alltag

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Im Jahr 2022 veröffentlichte Martin Kämpchen seine Autobiographie mit dem Titel „Mein Leben in Indien“ (Patmos Verlag). Er zog eine Summe von fünfzig Jahren, die er als freier Schriftsteller, Religionswissenschaftler, Übersetzer und Journalist in Indien  verbracht hatte. In diesem Jahr erschien eine weitere Summe: „Der Duft des Göttlichen. Indien im Alltag“ (Patmos Verlag), in dem er, in thematische Kapitel gegliedert, wesentliche Ausschnitte des indischen Lebens beschreibt: zum Beispiel „Frauen im Alltag“, die Medien, Erziehung und Sport, das Zeitgefühl und das Feste feiern. Die beiden ausführlichsten Kapitel widmet er dem religiöse Leben der Hindus und der großen Bedeutung der Familie.

Hier folgt daraus ein Auszug, den er INTR°A zur Verfügung gestellt hat:

Familie geht über alles
Martin Kämpchen

Der indische Psychoanalytiker und Schriftsteller Sudhir Kakar hat in packenden Einzelheiten eine Analyse der psychischen Situation einer Hindu-Familie geliefert. Im Folgenden zitiere ich einige Sätze aus »Die Inder. Porträt einer Gesellschaft«, das er zusammen mit seiner Frau Katharina geschrieben hat. Die Autoren betonen, dass es neben Streit und Konflikten auch eine beinahe unbegrenzte Loyalität gibt. Selten werden Konflikte die Familien auseinandertreiben, sondern allenfalls wohnen sie »getrennt zusammen«. Das heißt, Eltern und Kinder eines Familienzweigs kochen für sich und finanzieren ihre Lebenskosten getrennt, jedoch bleiben sie im Familienhaus wohnen und respektieren die Hierarchie.

Weiter heißt es: »… die meisten Inder [verbringen] ihre prägenden Lebensjahre auch heute noch in Familien, die näher an dem Modell der Großfamilie als an dem der Kernfamilie liegen – selbst wenn man in einer Kernfamilie lebt.« Und: »Das Ideal der ›brüderlichen‹ Solidarität innerhalb der Familie ist in der Psyche der Inder so stark verankert, dass sehr viel Kraft und Zeit dahingehend investiert wird, Familienbindungen aufrechtzuerhalten, sich gegenseitig zu helfen und Freizeit miteinander zu gestalten.«

Kein Freund, kein Lehrer, auch kein Vorgesetzter am Arbeitsplatz wird dieses Band der Treue zerreißen oder nur schwächen können. Ich musste akzeptieren, dass mir von jüngeren Menschen, denen ich half – mehr: denen ich einen Lebensweg eröffnete –, wenig Dankbarkeit gezeigt wurde. Sie wäre der aktive Ausdruck von Loyalität gewesen. Diese jedoch bleibt so stark auf die Familie konzentriert, dass man für die Qualitäten anderer keinen ungetrübten Blick mehr hat.

Die Neigung zum Wir: Die Liebe zu den Kindern.

Die intensive Beziehung zur Familie, die bedingungslose Treue zu ihr hat man von einer in Asien charakteristischen inneren Einstellung abgeleitet: Die Bevorzugung eines Wir-Gefühls gegenüber dem (in Europa verbreiteten) Ich-Gefühl. Dieses Wir-Gefühl entsteht, wenn man sich dem »Kollektiv« der Familie von Kindheit an unterordnet. Familie ist immer wichtiger als die Selbstverwirklichung. Um schon den Kleinkindern die Gewissheit zu geben, dass sie zur Familie gehören und sie in ihr so angenommen und geliebt werden, wie sie sind, werden sie gehätschelt, verwöhnt, liebkost, umsorgt. Alles dürfen sie verlangen, es wird ihnen gegeben oder versprochen.

Kinder dürfen die Gespräche der Erwachsenen stören, deren Tätigkeiten unterbrechen; niemand wird ihnen gebieten, leise zu sein, sich zurückzuhalten, ihre Forderungen aufzuschieben oder zu überdenken. Kleinkinder sind die uneingeschränkten Königinnen und Könige ihrer Wünsche und Triebe. Solange ihnen keine Gefahr an Leib und Leben droht, hören sie kein Nein. Diese Früherfahrung prägt die Menschen für ihr gesamtes Erwachsenenalter. Sie erleben Geborgenheit im Familie-Wir, die Sicherheit, dass man Hilfe und Unterstützung in Notlagen erfährt. Sie wissen intuitiv, dass die Familie sie nie allein lässt. Diese allgemeine intuitive Wertschätzung des Wir der Familie beobachte ich bis heute, wenn auch derzeit oft abgeschwächt. Gerade im Zuge des Feminismus kämpfen zahlreiche Gruppen um Individualität und die individuelle Lebensgestaltung der Frauen. Männern ist diese Freiheit in der Familie ohnehin sicher.

Diese enge Bindung an die Familie, ihre geradezu absolute Priorität gegenüber allen anderen Lebensbereichen, auch etwa der beruflichen Karriere, bewundern wir häufig, eben weil in Europa der Familienzusammenhalt mehr und mehr zerbricht und einem egoistischen Individualismus weicht. Die gesellschaftlichen Folgen dieses Prozesses sind uns bekannt.

Bei den Großfamilien oder joint families beobachtete ich häufig, wie die verschiedenen Mitglieder, die älteren und jüngeren, mitsamt der Dienstmagd alle den Tag in einem größeren Raum verbringen. Die Älteren lesen die Zeitung oder schauen Fernsehen, Frauen spielen mit ihren Kindern. Andere haben Gäste und unterhalten sich mit ihnen. Einer liegt auf der Couch und schläft. Jedes Mitglied folgt seiner Beschäftigung, ohne sich von den anderen gestört zu fühlen oder selbst zu stören.

Kommt ein Nachbar zur Tür herein, geht er unmittelbar auf jenen Menschen zu, den er sprechen will. Von den restlichen Menschen nimmt er keine Notiz, und er wird von keinen anderen als von jenem begrüßt. So vermischen sich in der Großfamilie unterschiedliche Sphären – Interessen, Spannungen, Regungen der Freude und Trauer –, ohne dass die eine Sphäre die anderen beeinträchtigt.

Auch wenn manchmal der Lärmpegel beträchtlich ansteigt –Inder haben gewöhnlich kräftige Kehlen –, bleiben die Familienmitglieder konzentriert und ungestört bei ihrer Beschäftigung. Die Kinder schlafen ein, wo sie gerade sitzen oder liegen, sei’s in den Armen ihrer Mutter oder Tante, sei’s auf einem Stuhl oder auf dem Fußboden. Die Frauen tragen sie aufs Bett in einem Nebenraum. Nichts kann sie dort aus dem Schlaf reißen, nicht grelles Licht, nicht einmal ein auf maximale Lautstärke aufgedrehtes Fernsehen oder das schallende Lachen der Männer. Beneidenswert die Inder, die von Kindheit an einen gesegneten Schlaf haben!

Die Kehrseite dieser Unterwerfung unter das Wir der Familie ist, dass junge Menschen mit einer Ichschwäche aufwachsen, die sie lebenslang behalten und auch pflegen. Wie zeigt sich diese Ichschwäche, welche sozialen Folgen hat sie? Junge Menschen werden zögernder und weniger bereitwillig reif und selbständig; sie lehnen sich an die Eltern und Älteren an, so lange sie nur können, das heißt, so lange sie nicht selbst Eltern werden und Verantwortung tragen müssen.

In den Dörfern, in denen Ehen viel zu früh geschlossen werden und zu früh Kinder auf die Welt kommen, habe ich junge Männer erlebt, die jahrelang nicht in ihre Rolle als Vater hineinwachsen. In ihren täglichen Gesprächen reden sie wie (unverheiratete) Teenager, die ihre Ungebundenheit lieben und nutzen, während in den Hütten die Ehefrauen und deren Schwiegereltern die Last der Kindererziehung und des Haushalts tragen.