Navid Kermani: Jeder soll von, wo er ist, einen Schritt näher kommen

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Navid Kermani: Jeder soll von, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott, München; Carl Hanser; 239 S., 978-3-446-27144-9, 22,-€

Rezension von Sigrid Reihs (ev. Theologin), Schwerte

Was geschieht gegenwärtig? Was ist das für eine Zeit, in der wir leben? Das sind zeitlose Fragen von wechselnder Konjunktur, die ganzen Epochen ihren Stempel aufzudrücken vermögen. Navid Kermani hat ein Echo dieser brennenden Fragen über die Weiten unserer Zivilisation aufgefangen, um den Pulsschlag der menschlichen Aufgeregtheit angesichts der immer wieder enttäuschten Erwartungen an die Religion, die Religionen zu messen und zu vergleichen.

Sein Hören und Aufhorchen gilt dem Hier und Heute. Weil sich nicht ereignet, was die Religionen verheißen haben, schlägt die lange Weile des Wartens zunehmend in Ratlosigkeit oder Abkehr um: „Manche sagen: Das Leben ist, was es ist, das Ergebnis von chemischen, atomaren und genetischen Prozessen, sozusagen ein Supercomputer, der sich durch Trial and Error von selbst weiterentwickelt, durch Versuch und Irrtum, Auslese und Anpassung, Ursache und Wirkung.“ (8)

Das neuzeitliche Denken ist von einer sehr diesseitigen Erwartung beherrscht, die sich in den Köpfen der meisten Menschen aufbaut. Aber wie schon in früheren Zeiten, als man die Religionen mit einem unerlösten Gefühl verabschiedete, so konnte auch die kritische Moderne keiner der real vollzogenen Revolutionen den Rang einer wirklichen Erlösung oder Befreiung zuerkennen. Als bewusstes Subjekt in dieser Gegenwart, und das heißt: als gläubiger intellektueller Muslim in Deutschland mit iranischen Wurzeln spürt Kermani fragend der Erkenntnis nach, was es bedeutet, dass „die Religionen“ da entstanden sind, „wo Menschen sich in der Natur umgeschaut haben oder sich um ihre Liebsten sorgten, als sie selbst krank waren, hungerten oder sich verloren fühlten, bei der Geburt ihres Kindes oder beim Tod der Eltern, also mit den wichtigsten Ereignissen, die es im Leben eines Menschen gibt.“ (11)  Wenn das so ist, dann gilt, dass allein das Staunen über das, was ist, der „Ursprung des Islams und aller Religionen“ ist. Dem Verfasser geht es um die Beziehung zwischen dem „Endlichen, das wir sind, und dem Unendlichen, das auch Gott genannt wird.“ (13)

Die Physik, insonderheit die Quantenphysik, prägte mit Blick auf die kleinsten Bausteine der Materie die Erkenntnis, dass es eine Wirklichkeit gibt, die sich von allem unterscheidet, was wir kennen. Kermani bemüht ausgerechnet das Realitätsverständnis der Physik als Beleg für das gerade in der Religion beheimatete Wirklichkeitsverständnis. Jenes performative, und damit zugleich eine neue, andere Wirklichkeit schaffende Glaubenswort, durch das der Gläubige seinem Glauben Realität verleiht, drückt sich für ihn am intensivsten im Atem als elementarster Tätigkeit eines jeden Menschen, des Lebens insgesamt aus. (18) Der regelmäßige dem Atem des Menschen eingehauchte Odem, der „Geist“, ist für ihn ein starkes Symbol für die Realität von Spiritualität. Damit verbindet sich die Frage, warum die einen glauben, während andere auch ohne Gott auskommen, warum es die einen kalt überläuft, wenn man erkennt, dass nichts von einem bleibt, während andere darauf vertrauen, dass es schon irgendwie weitergehen wird und „alles seine Ordnung hat“ (S.10). Dieses Staunen „über all die Dinge, Erscheinungen und Geschehnisse auf der Welt“, die man sieht, ohne sie erklären zu können, betrachtet Kermani als den Ursprung aller Religionen. In seinem Buch will er von der Beziehung zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen erzählen. Navid Kermani spricht mit seinen abendlichen Erzählungen an seine Tochter eine liebevolle Einladung aus an alle Menschen, die nach dem Sinn fragen, sich auf Religion einzulassen. Zugleich liefert er Zeugnisse der Grenzen von Erkennen, was Religion in besonderer Weise gerecht wird.

Zu Beginn erzählt Kermani, dessen Familie aus Isfahan im Iran stammt, davon, wie er seinem Vater im Angesicht von dessen Sterben das Versprechen gegeben hat, seine Tochter den Islam zu lehren. Der Geschmack fürs Unendliche, das Staunen wird dabei zum Ursprung aller Religion, und dies sehr viel facettenreicher als es auf den ersten Blick scheint.

Kermani unterteilt sein Buch in zahlreiche kleine Abschnitte. Der Vater erzählt und erklärt und die zwölfjährige Tochter fragt immer wieder nach, weil die Antworten des Vaters sie nur selten wirklich überzeugen. Er konzentriert sich darauf, dass das Göttliche nichts Äußerliches ist, sondern in uns selbst liegt und mit jedem Atemzug zugleich intensiven Anteil an der Welt gibt. Damit schafft er eine poetisch-spirituelle Bindung zwischen den Menschen und dem Göttlichen: „Halte dich fest am Seil Gottes“ (S. 21). Es geht dem Vater, Navid Kermani, darum seiner Tochter deutlich zu machen, warum er und letztlich auch sie den Islam als ihre Religion bezeugen ohne jedoch die Bedeutung der anderen Religionen in Frage zu stellen oder gar abzuwerten. In diesem Sinne konzentriert er sich auf die spirituelle Dimension von Religion, „dass mit dem Atem etwas Göttliches in uns fließt oder sich bei jedem Atemzug die Weltseele – … – mit der einzelnen Seele vermischt.“ (S. 31).

In jedem Abschnitt erzählt Kermani sehr offen von seinem eigenen Glaubensgespräch mit seinem Gott, zu dem seine Fragen und sein Unverständnis, seine Glaubenszweifel gehören. Die Fragen seiner Tochter treiben die Erzählung voran und gestalten die Begegnung zwischen Vernunft und Transzendenz. Durch diese Gesprächsform bezieht Kermani die konkreten Erfahrungen mit den Dogmen der Religionen und ihre unterschiedlichen Reaktionen auf die Infragestellung durch die kritische Vernunft mit ein, ohne sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Das abschließende Kapitel, das unter der Überschrift »Epilog« (231-234) steht, ist insgesamt von der Hoffnung getragen, dass trotz aller Zweifel der Glauben in den nächsten Generationen weitergetragen wird, dass sich die Gebete „irgendwann von selbst“ sprechen (234), damit der Geschmack für Güte und Frömmigkeit erhalten bleibt.

Navid Kermani (29-48) eröffnet das Gespräch mit seiner Tochter mit einer Frage, die er sich selbst immer mal wieder stellt, nämlich, warum er eigentlich Muslim ist, unabhängig von der Tatsache, dass er in eine muslimische Familie hineingeboren wurde. Für jemanden, der gerade wegen der Unterdrückung seines Verständnisses des Islam das Land, aus dem die eigene Familie stammt, den Iran, verlassen hat, ist diese Frage nicht banal, sondern von existenzieller Bedeutung. Mit seiner Antwort, dass er nämlich die beiden Grundaussagen des muslimischen Glaubensbekenntnisses bejaht, und durch dieses Bezeugen über alle Anfeindungen und Ausgrenzungsversuche erhaben ist, die den Islam unter eine andere menschliche Autorität bringen wollen, wird die eigene Beobachtung und das eigene Glaubenserlebnis zum zentralen Kriterium (29). Für Kermani geschieht im Bezeugen des einen Gottes die Gegenwart der göttlichen Macht, wie sie sich in der titelgebenden Geschichte als Programm zeigt »Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näherkommen.« (33).

Eine Gewissheit dieser Art zählt für die Gläubigen zu ihrer Vernunft des Herzens. Die der überprüfbaren Wahrheit verpflichteten Kritiker dagegen verstehen sich nicht auf diese Erfahrungs-Wahrheit; Sie verlangen nach Eindeutigkeit. Die Weite eines vom Glauben geprägten Wahrheitsverständnisses mit seiner Wertschätzung für die Gleichzeitigkeit verschiedener Bedeutungen, die die Religion zur individuellen Kraftquelle für die Menschen macht und sie von „nachgekauten, blind übernommenen Lehren“ (40) unterscheidet, darum geht es Kermani im Kern.  An die Stelle einer tiefverwurzelten Sehnsucht nach Eindeutigkeit auch in Glaubensfragen bedeutet daher die Verankerung der Wahrheit im Inneren der einzelnen Person nicht eine Absage an eine erfahrbare Verlässlichkeit, sondern sie ist eine Aufforderung, das Lebensdienliche und Bereichernde der Religion ins Zentrum zu stellen (42). Kermani will die Schönheit des Islam betonen. Ihm kommt es darauf an, sich auf diese Blickrichtung zu konzentrieren, während das Nachplappern aufgeschriebener Lehrsätze die Menschen in die Irre geführt habe. Er macht vor allem genau diese Haltung verantwortlich für Rückständigkeit, Gewalt und Frauenfeindlichkeit.

Wie dieses Verständnis des Islam als einem Beispiel für Religion wirkt, beschreibt Kermani in den weiteren Kapiteln seines Buches. Im Zusammenhang mit der These, dass Religionen da beginnen, wo das Sich wundern über das Leben beginnt (44), wird deutlich, dass es um etwas Größeres als den Menschen geht. Kermani betont den Gedanken an das Leben, an die Schöpfung, ja, er lädt ihn mit einer großen Bedeutung auf. Seinem Verständnis nach kann der Mensch zwar immer wieder die Erde und sich selbst gefährden, weil er die Rolle des Erlösers spielen will. In der Religion wird jedoch ein Blickwechsel vollzogen, dort wendet sich der Glaubende dem Leben zu, spricht von dessen Unverlierbarkeit: „Denn gleich, wie der Mensch wütet, selbst wenn er einen Atomkrieg entfacht – der Mensch wird nicht das Leben auslöschen, sondern nur sich selbst“ (51).

Das Konzept von Navid Kermani von Religion als eines Beziehungsgefüges zwischen Gott und den Menschen erinnert daran, dass eigentlich jede Religion angetreten ist, um den nicht erklärbaren, aber dennoch vorhandenen Dingen auf der Welt Raum zu geben. (61) Das impliziert bereits seine Hochschätzung der mystischen Traditionen, die schon Karl Rahner als die einzig zukunftsweisende religiöse Perspektive benannt hat. Die Erwartung einer unbezweifelbaren Antwort auf die Frage, warum etwas ist und nicht vielmehr nichts, verweist – im Sinne einer wissenschaftlichen Argumentation – auf die religiöse Sehnsucht nach dem ganz Anderen“.

Beseelt von dem durch die eigene Neugier angefachten Anspruch, seine religiöse Leidenschaft weiterzugeben, steht Kermani bereit, die besondere Qualität der religiösen Geschichten, wie sie in den verschiedenen Glaubensbüchern aufbewahrt werden, nicht als Lehre zu bezeichnen, sondern als Poesie. Und wie alle poetischen Texte haben die heiligen Schriften aller Religionen einen besonderen Charakter. Die heiligen Schriften der großen Religionen leben nicht vom Geist des rationalen Verstehens, der fundierenden Logik der Naturwissenschaften von der Erklärung der Welt. Ihre Welterklärungsversuche haben ihren Ursprung jedoch in derselben „unbändigen Neugier und unermesslichen Geduld“ (61).

Die dogmatische Verteidigung von objektiver Erkenntnis auch im Bereich der Religionen, für die in diesem Buch die Anfragen von Kermanis Tochter stehen, ist einer der Gründe, warum der Abschied der Theologie von der Idee „in verständlichen Begriffen, logischen Schlüssen, einfachen Sätzen“ (65) zu erklären, wer und was Gott ist, quälend lang ist.  Alle Religionen wollen nicht wahrhaben, woran sie immer wieder scheitern: dass das Unsagbare mit Hilfe von Sprache ausgedrückt werden soll. Die Grenzen des Wortes, der Sprache werden im Religiösen immer wieder deutlich, selbst wenn vor allem im Christentum z.B. die Predigt immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Wenn in der spirituellen Praxis der Religionen die Erfahrung der ‚Versenkung‘ gepflegt wird als Hören, Atmen, Riechen, Tasten und Fühlen, dann ist dies für Kermani in Wahrheit die existenzielle Dimension von Religion, getragen von der Melodie der Rezitation heiliger Texte. Eine Infragestellung des Kopfes verdient die Religion dennoch nicht, denn was von Kermani so vehement betont wird, braucht zugleich die Sprache (76).

In allen Religionen wird davon ausgegangen, dass ihre heiligen Schriften davon erzählen, wer und was Gott für die Menschen ist, das heißt, dass sich hinter all den unterschiedlichen Erscheinungen, Eindrücken und Gefühlen ein Lebensprinzip niederschlägt (81). Genau dies betont Kermani. Und doch gewinnen alle Religionen ihre Kraft und Faszination immer schon aus ihrer Unterscheidung von anderen. Diese notwendige und dauerhaft bestehende Herausforderung bezeichnet das Tor, durch das vor allem die Mystiker eintreten, um „Gott in jeder Gestalt“ zu erkennen (85).

Insbesondere in den monotheistischen Religionen, in denen äußere Religion und innere Botschaft unterschieden werden, entwickelt sich vor allem die Mystik in diese Richtung. Hier ist es gelungen, eine Religion des Mitgefühls zu etablieren, in der die Gläubigen immer mehr als ‚Menschen auf dem Weg‘ fungieren, so dass die religiöse Praxis des Einzelnen Teil der gemeinsamen Sehnsucht nach Gott sein kann. Die Formung der Gläubigen zu Komplizen einer kühlen Lehre durch die Theologen hat nach Kermanis Auffassung entscheidend zur Schwächung der Grenzen sprengenden Kraft von Religion beigetragen(98f). Parallel dazu hat sich sowohl die muslimische wie die christliche Theologie zu einem wahren Hotspot der ‚Abgrenzung‘ voneinander entwickelt (106), die heute – etwa in Gestalt einer forcierten Sehnsucht nach dem Eigenen und der Erzeugung von Distanzen – neue Grenzen aufzeigen und damit die Befreiungsgeschichten mittels des eigenen beschränkten Horizontes einhegen und zunehmend bedrücken. Denn nicht ‚Befreiung‘ lautet die Parole sondern ‚Anpassung‘ (112f). Um diese unheilvolle Entwicklung zu unterbrechen, bedarf es der Konzentration auf Erfahrung als gelebtes Schicksal und nicht als Theorie (120). Und nachfolgend eine öffentliche Debatte darüber, wie sich die scharfen Gegensätze, die zwischen den Religionen bestehen, auflösen lassen angesichts der absehbaren gesellschaftlichen Folgen und Nebenfolgen.

So erzählt Navid Kermani in seinem Abschnitt ‚Der dunkle Gott (125-135) davon, wie er in seinem Arabischstudium gelernt habe, dass Verstehen ein Prozess ist, der niemals aufhört. Im Blick auf die Religion wirbt er mit dem Instrument des Verstehens als dauerndem Prozess dafür, sich vor allem auch der dunklen Seite Gottes zuzuwenden, um dadurch zu entdecken, wie sehr die Religionen mit ihren heiligen Schriften die Trostbedürftigkeit der Menschheit, der Welt insgesamt immer zum Thema haben (132). Die geringe Kursnotierung dieses Verzichts der Religionen auf Verdrängung des Bösen in Sachen Heilung der Welt bedeutet für Kermani, dass sie für die menschliche Erfahrung bemerkenswerte Gewinne bereithalten: Vielfalt einer von dunklen Geheimnissen bestimmten radikalen Liebe Gottes, in die das Böse, der Satan eine entscheidende Rolle spielt (134f). Darum sind die Zweifel der Menschen an Gott konstitutiv für den Glauben, für das Leben insgesamt. Nicht mehr und nicht weniger. Die Zweifel senden ein quasivernünftiges Signal an die Menschen mit ihren Welterfahrungen, die von Gewalt, von Leiden, von Tod, von Kriegen bestimmt sind, die nicht zu kontrollieren sind, und zugleich gehört es zu den großen Errungenschaften der Religionen, Menschenopfer und Mädchenmord überwunden zu haben (140) und damit die Ungerechtigkeiten nicht aus den Augen zu verlieren. Aufs Ganze gesehen, das heißt angesichts der Tatsache, dass die Menschen heute von Gott weitgehend nur das Gute, das Freundliche sehen wollen (142), und damit übersehen, wie klein sie ihn damit machen, erweist sich für Kermani die dunkle Seite Gottes als einer der letzten Rettungsversuche Gottes.

Mit diesem Blick auf das Böse nimmt Kermani wie selbstverständlich auch die Rede vom „Opfer“ ins Visier, das Kruzifix, das in immer weniger Kirchen sichtbar ist, und dennoch die Quelle des Christentums darstellt (146). Er weist daraufhin, dass auch Gandhi das Opfer zum unverzichtbaren Bestandteil von Religion erklärt hat, indem er Religion ohne Opfer als eine der sieben Todsünden der modernen Gesellschaft charakterisiert hat (147). Damit verbindet sich für Kermani der Hinweis, ‚das Geheimnis im Martyrium‘ wahrzunehmen, vor allem zu entdecken, dass Gottvertrauen über die menschliche Erfahrung hinausgeht.

Entsprechend entwickelt jede Religion ihre eigenen Antworten. Der große Ernst, mit dem Kermani auch in diesem Zusammenhang speziell den mystischen Traditionen aller Religionen eine entscheidende Bedeutung zuweist, signalisiert unmissverständlich, dass es nur auf diesem Wege möglich ist, „sich wieder den Menschen zuzuwenden und ihnen zu dienen, für sie da zu sein, sie ohne Unterschied zu lieben (163)“. Spannenderweise begründet Kermani mit dieser Aussage seine besondere Wertschätzung des Koran im Unterschied zur Bibel (169). Er charakterisiert ihn als eine vergleichsweise ‚lebensbejahende‘, ‚optimistische‘ Religion, die weniger auf den Willen als vielmehr auf die Erkenntnis setzt. Der Glaube als natürliche Anlage im Menschen ist seiner Meinung nach die treibende Kraft für das Bedürfnis nach Rettung und Frieden (176).

Mit der Beziehung zwischen Gott und Mensch gewinnt die Kommunikation zwischen diesen beiden sehr verschiedenen Gesprächsteilnehmenden eine grundlegende Bedeutung, um „hinter all den Zufälligkeiten, Gegensätzen und selbst den Ungerechtigkeiten dennoch eine Ordnung zu sehen“(188). Kermani ist beseelt von der Erfahrung, dass Menschen in dieser intensiven Kommunikation mit Gott seine Zeichen lesen können und er hält selbstbewusst den Islam für die zeitgemäße Religion in diesem 21. Jahrhundert. Gegen die Alltagserfahrung von Willkür und Zufälligkeit im Blick auf Leid und Ungerechtigkeit wirkt seine Bewunderung für eine das ganze Universum umfassenden Ordnung wie ein subversives Widerstandspotential. Gerade diejenigen, die sich die Dankbarkeit für die Kostbarkeit des Lebens erhalten haben, sind für Kermani diejenigen, die sich in einem Lebensgespräch mit Gott befinden, in dem Gott und Mensch sich gegenseitig brauchen, um jeweils Gott und Mensch sein zu können (193).

Die von Kermani immer wieder betonte Kommunikation zwischen Gott und Mensch war zu allen Zeiten Kennzeichen einer lebendigen Glaubensbeziehung und ist es geblieben. Dies ist der Kern jeder Religion, was leider durch die Institutionalisierung vielfach verloren gegangen sei. Die Grenzsituationen des Lebens sind für Kermani die Momente, in denen das metaphysische Potential der Religionen seinen Überschuss gegenüber den physikalischen Erklärungen offenbaren kann (214). Im Epilog seines Buches (231-234) nimmt er auf sehr sympathische Weise schon etwaige kritische Anfragen hinsichtlich der allgemeinen Überzeugungskraft seiner Darstellung auf, indem er den Dialog mit seiner Tochter noch einmal ins Zentrum rückt und ihr zugesteht, nicht vollkommen überzeugt zu sein. Was in diesem Schlusskapitel sichtbar wird, ist ein ernster Versuch, sich ehrlich der Herausforderung der Frage nach Gott zu stellen. Ob ein Mensch je wirklich verstanden hat, wer oder was Gott überhaupt ist, muss bezweifelt werden, aber wir können aus unserer Zeit, in der in allen Regionen und Religionen der Welt – wenn überhaupt – kritisch nach Gott gefragt wird, nicht aussteigen. Und Kermani macht deutlich, dass es sich lohnt, nicht nach einer Exit-Strategie zu suchen, sondern sich zu bemühen.

Sigrid Reihs,* 1956, ev. Theologin, (sigrid.reihs@t-online.de).