„Komm, lass uns kennenlernen,
die Fragen vereinfachen,
lieben und geliebt werden.
Die Welt bleibt niemandem erhalten.“
Yunus Emre hat dies vor 700 Jahren sehr treffend formuliert. Einander näherzukommen und geschwisterlich zusammenzuleben – das ist der türkisch-muslimischen Gemeinschaft und den Deutschen in den letzten 50 Jahren wahrlich nicht besonders gut gelungen. Diese Feststellung mag zunächst einmal provokant erscheinen, zumal auf dem mühseligen Weg hier und da auch Fortschritte erzielt wurden. Aber selbst punktuelle Hoffnungszeichen eines Bemühens beider Seiten abseits gegenseitig stets lang gehegter und gepflegter Ressentiments und stereotyper Haltungen sowie Weltanschauungen – der Türkischen einerseits sowie der Deutschen andererseits – weisen auf einen eher stark getrübten Gesamteindruck hin, der umso stärker verdeutlicht, dass ein wirkliches Zusammenleben nur im wahrhaftigen und aufrichtigen gegenseitigen Kennenlernen und Sich-Austauschen erfolgreich gelingen kann. Dies alles setzt insbesondere einen starken auf Wechselseitigkeit beruhenden Willen beider Seiten voraus. Um den gegenwärtigen Ist-Zustand des türkisch-deutschen Zusammenlebens ein wenig näher zu veranschaulichen und indes die Motivation zu einem Miteinander im besten Sinne ungeachtet zahlreicher Rückschläge in nachhaltiger Weise zu fördern, mag der nachfolgende kurze Rückblick auf die letzten vier bis fünf Jahrzehnte in wirkmächtiger Weise dienen.
Über ein halbes Jahrhundert sind es mittlerweile her, seit der erste türkische Gastarbeiter deutschen Boden betrat. Unsere Väter kamen unter extrem schwierigen Bedingungen hierher ins Land. Sie sagten zu allem Ja und Amen und arbeiteten unter nahezu unzumutbaren Bedingungen, was sich meist im größten Dreck sowie jeden Tag und jede Nacht in immer wiederkehrenden Wechselschichten vollzog. Sie opferten ihre Kraft und Stärke, fraßen die schier unerträglichen Schmerzen des Heimwehs in sich hinein und verrichteten mit unglaublicher Geduld alle Arbeiten, die man ihnen auftrug, nicht zuletzt, um den Aufschwung Deutschlands zu fördern.
Obwohl sie von manchen Kreisen der Gesellschaft hin und her geschubst, beleidigt und verachtet wurden, sind sie dennoch oft glücklich geworden. Obwohl man sie nicht immer als Menschen, vor allem als Mitbürger bzw. Mitmenschen erster Klasse betrachtet hat, scheuen sich diese Menschen aus Anatolien nicht, den Deutschen ihre Türen und Arme zu öffnen. Insbesondere im Monat Ramadan bauen sie Brücken in die Herzen ihrer Mitmenschen und leben nach dem Motto: „Komm, komm näher, wer auch immer du bist, komm näher!“ (Rumi)
Leider werden solche positiven Seiten der Einwanderung jedoch meistens übersehen. Stattdessen wurde den Migranten häufig vorgeworfen, sich nicht genügend in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Dabei war von Anfang an gar nicht klar, was unter Integration überhaupt zu verstehen ist.
Warum und für wen wird das Wort Integration benutzt? Die Antwort liegt auf der Hand: In erster Linie scheint es für die Türken bestimmt, die doch schon seit einem halben Jahrhundert in Deutschland leben. Und welche Botschaft vermittelt der Begriff den Deutschen? „Da sind ausländische bzw. muslimische Gastarbeiter nach Deutschland eingewandert. Die Kultur, die sie mitgebracht haben, gehört aber nicht zu uns. Daher müssen sie sich in eine bestimmte Richtung entwickeln. Es ist ihre Pflicht, sich uns und unseren Werten anzupassen.“
Zwar konnte man sich bis heute nicht auf eine präzise Definition des Begriffs Integration einigen, doch wird schon seit langem munter Politik damit betrieben. Jeder meint zu wissen, dass die deutsche Sprache die Integration der Türken grundsätzlich fördert. Das mag auch unbestritten so sein, aber warum verlassen gerade in letzter Zeit immer mehr türkische Akademiker das Land? Ihr Beispiel zeigt, dass die Formel „Bessere deutsche Sprachkenntnisse = bessere Integration“ so nicht aufgeht. In gutem Deutsch erklären sie, dass sie sich hierzulande nicht angenommen, nicht akzeptiert fühlen. Man verlangt von ihnen, sich an die deutsche Gesellschaft anzupassen und verweigert ihnen, sich als Türken und Muslime in diese Gesellschaft einzubringen. Aber genau diese Partizipation an der Gesellschaft erscheint mir sehr wichtig. Die deutsche Gesellschaft sollte diese Menschen vielmehr dazu einladen, an der Gesellschaft zu partizipieren, an ihr teilzuhaben, sich in sie einzubringen. Die Politik sollte die Haltung vermitteln: „Ich akzeptiere dich als Mensch und auch deine Werte. Was möchtest du für unsere Gesellschaft tun?“, und nicht befehlen: „Pass dich mir an, verinnerliche meine Werte!“ Auch ich halte die Partizipation von Türken bzw. Muslimen an der deutschen Gesellschaft für enorm verbesserungswürdig. Andererseits aber kann kein Zweifel darin bestehen, dass sie auch in der Vergangenheit schon einen großen Beitrag zur Entwicklung Deutschlands geleistet haben. In der aktuellen Integrationsdebatte wird dieser Beitrag jedoch regelmäßig entwertet und herabgewürdigt. Dort wird oft quasi in unzulässiger Art und Weise sowie mittels pauschalisierender Rhetorik herbeigeredet, dass Türken und Muslime die deutsche Sprache gar nicht erlernen wollen und somit eine Verweigerungsposition einnehmen. Die Gefühle und Gedanken dieser Bevölkerungsgruppe werden dabei ebenso pauschal über einen Kamm geschoren.
Diese Form der Diskussion führt dazu, dass der Umgang in der Gesellschaft inzwischen vielfach auf einer Philosophie des ‚Wir‘ und ‚Die Anderen‘ basiert. Diese andere Seite wird künstlich konstruiert und mit bestimmten Eigenschaften assoziiert. Sie wird verurteilt, beschuldigt und diskriminiert. Wenn Menschen aber immer wieder diskriminiert und nie akzeptiert werden, wenden sie sich früher oder später von der Gesellschaft ab. Ihre Haltung wird dann oft als Integrationsunwilligkeit interpretiert, obwohl sie doch eigentlich durchaus gewillt sind, sich innerhalb der üblichen Sozialisationsmodi und damit gerade für die Gesellschaft zu engagieren. Die Einheimischen sollten demzufolge also deutlich zeigen, dass sie nicht nur bereit sind, Fremde durch eine praktizierte Willkommenskultur aufzunehmen, und darüber hinaus, sich im Stande zeigen, fremde Kulturen als Bestandteile der deutschen Gesellschaft zumindest wahrzunehmen. Diese auf nahezu humanistischen Prinzipien fußende grundlegende Basis zu bezeichnende Bereitschaft wäre ein wichtiger Schritt hin zu einem harmonischeren Zusammenleben zwischen Türken und Deutschen.
Auch die Deutschen profitieren dabei von ihrer Akzeptanz fremder kultureller Einflüsse und ihrem Respekt vor diesen. Das zeigt sich auch heute schon ganz eindeutig überall dort, wo Dialog geführt wird. Die Beachtung und Akzeptanz von Kulturvielfalt sollte also in jedem Fall als Bereicherung der eigenen Kultur verstanden werden. Betont werden soll an dieser Stelle aber auch, dass natürlich nicht allein die Deutschen für den Dialog mit Menschen aus einem fremden Kulturkreis verantwortlich sind. Auch Letztere, wobei der Begriff „die Fremden“ ausdrücklich vermieden sei, sind dazu angehalten, ihrerseits aufnahme- und dialogbereit zu sein.
Das Zusammenleben der in Deutschland lebenden Türken mit der einheimischen Bevölkerung besitzt ganz gewiss seine besonderen Eigenheiten und Eigenarten. Aus welchem Grund auch immer, existiert zwischen Türken und Deutschen offenbar so etwas wie eine ‚Gewebeunverträglichkeit‘. Man funkt anscheinend nicht auf der gleichen Wellenlänge. Nach einem halben Jahrhundert haben sich die Türken, meiner Meinung nach, bisweilen weder an Deutschland noch an das (kulturelle) Klima innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik gewöhnen können. Auch scheinen die Türken weder auf die faszinierende Landschaft Anatoliens, die ja auch von Millionen Deutschen besucht wird, noch auf die türkische Sprache, die die Sprache einer großen Zivilisation ist, und schon gar nicht auf die türkische Küche, die eine der reichhaltigsten Küchen der Welt ist, verzichten zu wollen oder zu können. Die wenigen, die dies endgültig getan haben, lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen.
Der bekannte Prof. Dr. Fuat Sezgin konstatierte hierzu treffend: „Das Ansehen der türkisch-islamischen Welt ist immer noch schlecht in Europa. In dem Land Deutschland, wo ich lebe, kennt man die türkisch-islamische Welt nicht besonders gut. Einerseits ist es deren Schuld, andererseits aber auch unsere. Wir Türken wissen nicht, wie wir uns als Muslime in Europa verhalten sollen. Unsere Anpassungsfähigkeit an die Europäer ist sehr schwach ausgeprägt.“ Sezgin unterstreicht hier zwei wichtige Realitäten: Erstens, die Europäer kennen uns nicht, und zweitens, wir tun uns äußerst schwer, mit ihnen klarzukommen. Seine Diagnose dürfte korrekt sein. Aber wie ist es zu erklären, dass es zwei Gesellschaften im Informations- und Kommunikationszeitalter über ein halbes Jahrhundert hinweg nicht geschafft haben, sich einigermaßen kennenzulernen, sodass sich ausgerechnet die Türken, die ja aus einer multikulturellen Zivilisation kommen, so schlecht in die deutsche Gesellschaft einzufügen vermögen?
Zusammenleben setzt Akklimatisierung voraus. Um sich allerdings akklimatisieren zu können, muss man sich in dem sozialen Klima des Landes, in dem man lebt, auch wohlfühlen. Dazu gehört, dass man sich akzeptiert fühlt, dass man den Eindruck hat, willkommen zu sein. Das ist auch die erste Voraussetzung der Förderung eines Wir-Gefühls. Leider können das die Türken heute aber nicht unbedingt von sich behaupten, zumindest nicht auf allen Ebenen. In den letzten Jahren sind Zehntausende Deutsche in die Türkei ausgewandert. Sie fühlen sich dort wohl, sie sind dort willkommen, werden dort auch mit ihrer eigenen Kultur akzeptiert. Integrationsprobleme oder Sprachprobleme sind dort gar kein Thema. Anders als bei den Türken in Deutschland hat ihre Migration aber auch keine sozio-ökonomischen Gründe. Die Türken, die vor über fünf Jahrzehnten nach Deutschland gekommen sind, waren größtenteils dazu gezwungen, eine Arbeit in der Fremde anzunehmen. Ihre Perspektive war zunächst einmal eher kurzfristig ausgerichtet. Doch als sich dann im Laufe der Zeit zeigte, dass man auf Dauer eine neue Heimat in Deutschland gefunden hatte, trat die Frage nach der Akzeptanz und dem Aufnahmewillen mehr und mehr in den Vordergrund.
Die erste Generation der Türken kam als ‚Gastarbeiter‘ und ist inzwischen in Rente. Ihre Kinder und Enkel sind zu einem gewissen Teil gebildet und unternehmerisch tätig. Betrachtet man sie objektiv und unvoreingenommen, nicht durch das Objektiv der verworrenen Integrationsdebatten, so erkennt man Menschen, die sich am gesellschaftlichen Leben beteiligen, die Grundgesetz und Staat gegenüber loyal sind und ihren deutschen Mitbürgern gegenüber tolerant. Die Aktivitäten, die das Potenzial besitzen, die Probleme rund um Integration, Gewalt und Sprachlosigkeit zu beseitigen, finden leider einfach zu wenig Beachtung und Wertschätzung.
Im Grunde genommen ist es doch ganz einfach: Wer spürt, dass er als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft mit allen Rechten und Pflichten akzeptiert wird, wird sich seinerseits auch der Gesellschaft gegenüber nicht verschließen. Das gilt für alle Menschen, unabhängig von ihrer Nationalität, Kultur oder Religion.
Es liegt also auf der Hand: Der Weg zum näheren Kennenlernen führt über den Dialog, über einen redlichen, tiefgehenden, beidseitig tolerant geführten und respektvollen Dialog; einen Dialog, der uns in gemeinsamen Projekten zusammenführt und dessen Ergebnis dem Wohl der gesamten Gesellschaft zugute kommt. Nur mit Hilfe eines solchen Dialoges, der auf der Grundlage der verfassungsmäßigen Rechte und universellen Werte fußt, werden wir unsere Probleme miteinander lösen können.
Wenn jeder diese Ermunterung ernstnehmen würde, würden Völker aus unterschiedlichen Kulturen viel harmonischer zusammenleben als heute, und alle würden davon profitieren. Leider ist zu beobachten, dass der Wille zum gegenseitigen Kennenlernen nicht sehr ausgeprägt ist. Immer wieder wird Angst voreinander geschürt und werden Vorurteile produziert, sodass allseits Stereotypen dominieren.
Trotz all dieser Hürden und Hindernisse auf dem Weg zu einem harmonischeren Zusammenleben bin ich Optimist. Auch und gerade so unterschiedliche Kulturen wie die türkische und die deutsche haben die Chance, sich gegenseitig zu ergänzen und harmonisch eine gemeinsame Zukunft zu gestalten. Nur müssen beide Seiten mit Worten und Taten erkennen lassen, dass sie dies auch wirklich wünschen.
Muhammet Mertek