Religionen im Unterricht – Udo Tworuschka

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Uda Tworuschka, 2022, Religionen im Unterricht. Ein geschichtlicher Abriss des interreligiösen Lernens (Band 1 und 2), Hohenwarsleben: Westarp Science Verlag

Rezension von Achim Riggert
(Auszüge aus Rez. im Handbuch der Religionen, 72. Ergänzungslieferung, Juni 2022, XVI – 7.3, S. 1-6)

Das Interesse an „Interreligiösem Lernen“ hat in der Religionspädagogik in Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre stark zugenommen, worauf auch der Autor des hier besprochenen Doppelbandes nachdrücklich und mit zum Teil kritischen Anmerkungen hinweist (II, 272ff.).[1] Im Zuge dieser Dynamik sind in den letzten Jahren zahlreiche Konzepte und Entwürfe entwickelt und bereits einige zusammenfassende Darstellungen und Bilanzen veröffentlicht worden.[2] Der langjährige Professor für Religionswissenschaft an der Universität Jena und Begründer einer „Praktischen Religionswissenschaft“[3] Udo Tworuschka, der auch das „Handbuch der Religionen“ mitherausgibt und inzwischen Ehrenvorsitzender von INTR°A[4] ist, intendiert auf diesem Hintergrund eine umfassendere, historisch-systematische Darstellung, die tiefer in die Geschichte und Vorgeschichte aktueller Ansätze zum Thema blicken und seines Erachtens wichtige, bereits vieles vorwegnehmende Vorläufer (insbesondere der sogenannten „Religionen-Diadaktik“ ab den 1970er Jahren) in Erinnerung rufen möchte (I, 9f.). Der Verfasser führt darin eine frühere, erheblich kürzere Darstellung aus seiner Feder weiter, die eine wichtige Pionierarbeit in dieser Hinsicht darstellt.[5] Entgegen einer Reduktion auf unmittelbares Begegnungslernen (gegen Folkert Rickers [s. II, 297ff.]), setzt der Autor dabei ein sehr weitgefasstes Verständnis von „Interreligiösem Lernen“ voraus, das im Prinzip jegliche Beschäftigung mit anderen Religionen zu verschiedenen Zeiten einbezieht. Der Verfasser holt dementsprechend weit aus, beginnt mit einem Durchgang unterschiedlicher Epochen und Phasen von den ersten Spuren im Neuen Testament und in der frühen Kirche bis zur Zeit der Nationalsozialismus (Band 1: Von den Anfängen bis zum Nationalsozialismus), um dann in der zweiten Hälfte (Band 2: Von 1945 bis zur Gegenwart) den engeren Zeitraum der letzen 75 bzw. insbesondere 50 Jahre eingehender zu behandeln – wobei der Schwerpunkt auf dem evangelischen Religionsunterricht liegt, ohne die Entwicklung im katholischen Raum gänzlich auszusparen (s. II, 76ff.337ff.). Dabei setzt der Verfasser insgesamt als Begründung für seinen ausholenden Ansatz voraus, dass die gegenwärtigen Diskussionen zum Thema oftmals von „Argumentationsmustern“ geprägt sind, in denen sich „alte Kontroversen“ zum „ob“, „wozu“ und „wie“ einer theologischen und religionspädagogischen Beschäftigung mit anderen Religionen abbilden (s. I, 9f.). In der konkreten Ausgestaltung sind die Bände vor allem von Porträts einzelner, vom Verfasser für zentral bedeutsam gehaltener Protagonisten und ihrer Ansätze in den jeweiligen Epochen oder Phasen geprägt – was auch die Cover der beiden Bände anzeigen. Zugleich bieten die Bände aber auch thesenartige Zusammenfassungen, zum Beispiel zum Ertrag der Aufklärung (I, 148-150) oder zu den konstitutiven, neueren Entwicklungen seit den 1970er (II, 261-271) und den 1990er Jahren (II, 368-392). Ebenso sind erhellende, stärker systematisierende Darstellungen zu spezifischen Aspekten und Bereichen zu finden, zum Beispiel zu terminologischen Fragen hinsichtlich der Bezeichnung anderer Religionen im Bildungskontext und ihrer Implikationen (I, 15ff.) oder zu Typologien didaktischer Ansätze (II, 108ff.) u.a. Schließlich fügt der Autor auch „narrative Autobiographien“ von seiner Frau und sich selbst in die Darstellung ein, die anschaulich die eigenen, oftmals avantgardistischen Bemühungen zum „Interreligiösen Lernen“ nachzeichnen (s. II, 180-234).

Die materialreiche, viele Porträts einzelner, interessanter Protagonisten integrierende Darstellung macht das Buch sehr facettenreich und lebendig, bringt aber zugleich eine Fülle von Einzelinformationen mit sich, die manchmal schwer zu bewältigen ist. Insofern ist es auch nicht einfach im begrenzten Rahmen einer Rezension wesentliche inhaltliche Stränge herauszufiltern, geschweige denn auf Einzelnes genauer einzugehen. Ich möchte mich deshalb auf einige Schlaglichter und inhaltliche Punkte beschränken, die mir als interreligiös aktiver Religionspädagoge und religionstheologisch interessierter Theologe aus heutiger Sicht interessant und wichtig erscheinen.

Erhellend und hilfreich finde ich zunächst die religionswissenschaftlich ausgewiesenen Reflektionen zur Terminologie bezüglich anderer Religionen im Religionsunterricht, mit der der Autor seine Darstellung in Band 1 beginnt (I, 15-56). Diese geben einen guten Überblick über die verschiedenen Bezeichnungen im Lauf der Zeit und weisen eindrücklich auf die zum Teil problematischen, einschränkenden Implikationen bestimmter Begrifflichkeiten wie zum Beispiel „Fremdreligionen“ oder „Weltreligionen“ hin (s. II, 16ff. u. 35ff.). (…)

In der Darstellung der Entwicklung seit 1945 (Band 2) erfährt man zunächst in eindrücklicher Weise etwas über frühe, innovative Vorläufer des „Interreligiösen Lernens“ im engeren Sinne, die bereits in den 1950er und 1960er Jahren aktiv waren, aber wenig bekannt sind. (…) Aufschlussreich ist auch die Darstellung der Impulse durch dialogische und ökumenische Aufbrüche in den Kirchen („Ökumenisches Lernen“) seit den 1960er Jahren (II, 66ff.) und der Abriss zu den Anstößen durch zunehmende Pluralisierung in den 1970er Jahren sowie ihre religionspädagogischen Folgen („empirische Wende“ – II, 80ff.). Sie bestätigen die starke Interdependenz zwischen allgemeiner gesellschaftlicher bzw. kirchlicher Horizonterweiterung und religionspädagogischer Öffnung. Ein weiterer, besonderer Schwerpunkt besteht in der eingehenden Darstellung der „neue(n) Ebene der Diskussion“ („Religionen-Didaktik“) ab Mitte der 1970er Jahre (I, 97ff.). Diese Aufbruchphase sieht der Autors nicht mehr vorrangig von einem Abgrenzungsinteresse, sondern einer verschieden motivierten, genuinen Beschäftigung mit religiöser Vielfalt  – inklusive ersten Begegnungsmodellen u.a – geprägt. (…)

Der letzte Teil des 2. Bandes (II, 272ff.) ist schließlich der aktuellen Phase seit den 1990er Jahren gewidmet. Hinsichtlich dieser Phase möchte der Verfasser vor allem eine stärkere Kontinuität zur ersten, seiner Meinung nach nicht nur religionskundlich, sondern bereits vielfältiger und innovativer geprägten Phase seit den 1970er Jahren (s.o.) aufzeigen, was ihm meines Erachtens auch gelingt (II, 274-280). Im Anschluss daran bietet der Schlussteil vor allem prägnante, zusammenfassende Darstellungen der spezifischen Beiträge „nachhaltig“ aktiver und innovativer Protagonisten dieser beiden Phasen bzw. der letzten Phase (darunter Herbert Schulze, Johannes Lähnemann und Reinhard Kirste – den Mitbegründer von INTR°A – und viele andere [II, 281ff.]).

In seinen bilanzierenden Thesen zum gegenwärtigen Stand (II, 368ff.) hält der Verfasser abschließend viele erfreuliche Fortschritte bzw. Ergebnisse des Projekts „Interreligiöses Lernen“ in den letzten 30 bzw. 50 Jahren fest, die Mut machen, aber auch zur Weiterführung einladen. Hervorzuheben ist hier u.a. die zunehmende Zahl der Akteure, die verstärkte Vernetzung und Kooperation, die gewachsene Selbstverständlichkeit des Themas und des Zieles „Pluralitätsfähigkeit“, die weiter verstärkte Bedeutung der Begegnungsdimension, die gewachsene methodische Vielfalt und schließlich ein neuer, innovativer Vorstoß in Richtung einer dezidiert „pluralistischen Religionspädagogik“ (II, 388)[6], der im Anschluss an den pluralistischen Ansatz in der Religionstheologie ein dementsprechend ausgeweitetes und vertieftes interreligiösen Lernen anstrebt. (…)

Summa summarum bietet der Zweibänder eine Fülle an Informationen und Einsichten zur Geschichte des „Interreligiösen Lernens“, zu einzelnen Phasen und Protagonisten sowie zu Entwicklungslinien, Konzepten etc., die dem anspruchsvollen Programm des Verfassers (s.o.) durchaus gerecht werden und eine Lektüre unbedingt empfehlenswert machen. Dies gilt auch für die spezifischen Akzente der Darstellung bzw. Position des Autors: die Betonung historischer Kontinuitäten, das Plädoyer für eine intensivere Einbeziehung religionswissenschaftlicher Expertise (II, 372.374) und das Eintreten für eine vermittelnde Position zwischen „konsenshermeneutischen“ und „differenzhermeneutischen“ Konzepten (II, 143. 359.381), was hier aber nicht mehr im Einzelnen besprochen werden kann. Die besondere Stärke der Arbeit besteht meines Erachtens darin, dass sie den Horizont hinsichtlich der Genese und der Entwicklungslinien des „Interreligiösen Lernens“ erheblich erweitert bzw. viele eher wenig beachtete Aspekte, Phasen und Persönlichkeiten beleuchtet und einbezieht. (…)

Achim Riggert, 08.05.2022

 

[1] I verweist auf Band 1, II auf Band 2.

[2] Neuere zusammenfassende Darstellungen ab 2005 s. Schreiner, Peter/Sieg, Ursula/Elsenbast, Volker (Hg.), 2005, Handbuch interreligiöses Lernen. Eine Veröffentlichung des Comenius-Institutes; Willems, Jochen, 2011, Interreligiöse Kompetenz. Theoretische Grundlagen – Konzeptualisierungen – Unterrichtsmethoden; Schambeck, Mirjam, 2013, Interreligiöse Kompetenz. Basiswissen für Studium, Ausbildung und Beruf; Sajak, Claus Peter, 2018, Interreligiöses Lernen.

[3] Zum Konzept der „Praktischen Religionswissenschaft“, das insbesondere auch die Beschäftigung mit dem Thema „Religionen im Unterricht“ einschließt, s. die Einführung von Tworuschka: „Praktische Religionswissenschaft. Theoretische und methodische Grundüberlegungen“, in: Klöcker, M./ders. (Hg.), 2008, Praktische Religionswissenschaft, S. 13-24.

[4] Weitere Informationen zu INTR°A und Tworuschkas Wirken in diesem Rahmen s. auf der Homepage von INTR°A: www.interrel.de.

[5] s. Tworuschka, Udo, 1983, Die Geschichte nichtchristlicher Religionen im christlichen Religionsunterricht (Kölner Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte, Bd. 2)

[6] s. II, 388. Dazu erscheint in diesen Tagen eine Publikation: Fermor, Gotthard/Knauth, Thorsten/Möller, Rainer/Obermann, Andreas (Hg.), 2022, Dialog und Transformation – Pluralistischen Religionspädagogik im Diskurs, Münster/New York: Waxmann.