„Musik kann verkrustete Dogmen aufbrechen“ – Bericht INTR°A-Tagung im November 2022

2486
Bild: M.Mertek

„Musik kann verkrustete Dogmen aufbrechen“ (Hans Blumenberg) – Bericht INTR°A-Tagung am 19. November 2022 in Köln und Online: Klangräume des Einen – Die dialogische Kraft der Musik 

Interreligiöse Musikprojekte erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Dementsprechend hat die Frage nach der Bedeutung von Musik für den interreligiösen Dialog in der letzten Zeit größere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dabei wird oft betont, welche großen Chancen interreligiöse Musikprojekte bieten, religiöse Identität zu weiten und Menschen über Grenzen hinweg zu verbinden. Eine Dimension, die gerade angesichts der derzeitigen Weltlage sehr aktuell ist.

Auf der diesjährigen INTR°A- Tagung in Köln (Melanchthon-Akademie, zugleich online) wollten wir diese Bedeutung von Musik für interreligiöse Verständigungsprozesse genauer erkunden und erleben. Das Programm sah deshalb einerseits musiktheoretische Reflexionen und andererseits praktische Erprobungen sowie konkrete Aufführungen interreligiöser Musik vor (das gesamte Programm s. Flyer Tagung ).

Den Anfang machte die Theologin, Religions- und Musikwissenschaftlerin Dr. Verena Grüter. Unter der Überschrift „Musik in interreligiösen Begegnungen – zum ästhetischen und performativen Turn in der Religionstheologie“ ließ die Expertin die Teilnehmer:innen intensiv und anschaulich an den Ergebnissen ihrer Erforschung interreligiöser Musik teilhaben, die sie anhand des „Festivals Musica Sacra International“ in Marktoberdorf im Allgäu durchgeführt hat. Dabei ging sie von der These aus, dass interreligiöse Musikprojekte einen wichtigen Beitrag dazu leisten können, religiöse Anteile internationaler Konflikte zu bearbeiten bzw. zu überwinden. Im einzelnen arbeitete sie dazu anhand von drei exemplarischen Projekten im Rahmen des Festivals (ein christlich-muslimisches bzw. norwegisch-pakistanisches, ein buddhistisch-christliches und ein zoroastrisch-christliches Projekt) sehr präzise unterschiedliche Konstellationen und dementsprechende Herausforderungen und Chancen für Dialog und Verständigung heraus. Dabei wurde deutlich, wie verschiedene Anlagen des musikalischen Dialogs wie zum Beispiel die symmetrische Verschränkung unterschiedlicher Musiken bestimmten Ansätzen in der Religionstheologie entsprechen bzw. zu diesen in Beziehung gesetzt werden können. Ebenso zeigte sich, dass manchmal in und mit Musik leichter Brücken geschlagen und gemeinsame „Grundtöne“, die verbinden, entdeckt werden können. Eines der analysierten und von Grüter auch zu Gehör gebrachten Musikbeispiele (Ensemble Barbad mit der iranischen Sängerin Maryam Akhondy) wurde im weiteren Verlauf der Tagung auch noch live aufgeführt (s. Link zur Aufzeichnung unten). Die Aufzeichnung des gesamten Beitrags von Dr. Grüter finden Sie auf unserer Homepage hier.
Bereits in der ersten Fragerunde nach dem Vortrag wurde allerdings auch deutlich, dass interreligiöse Musikprojekte wie das „Festival Musica Sacra International“ – ähnlich wie andere Dialogprojekte – ebenso mit Widerständen zu kämpfen haben, die insbesondere in den letzten Jahren zum Teil wieder stärker geworden sind. So wiesen Vertreterinnen des Festivals darauf hin, dass Ihnen in ihrer katholisch geprägten Region viele Kirchentüren und auch Räume anderer Religionsgemeinschaften verschlossen blieben.

Im zweiten Teil des Vormittags ließ die muslimische Musikpädagogin, Bildungsreferentin und Chorleiterin Hayat Chaoui aus Wuppertal die Zuhörer:innen die mögliche verbindende Kraft von Musik zunächst konkret spüren, indem sie mit ihnen Rythmus- und Gesangsübungen – u.a. zur Aussprache des eigenen Namens und zu dem bekannten Lied „Der Mond ist aufgegangen“ – durchführte. Nach diesem Einstieg, der die ganzheitlich-prägende bzw. ganz-körperliche und verbindende Dimension von Musik eindrücklich erfahrbar machte, berichtete Frau Chaoui von den oft beglückenden interreligiösen Erfahrungen ihrer Chorarbeit, in denen sie allerdings immer wieder auch an bestimmte Grenzen stößt. So erzählte sie zum Beispiel von intensiven Gefühlen der Zusammengehörigkeit, des Zusammenwachsens zu einer Familie in ihrem Chor, während sie anderseits zugleich manchmal bedrückende Blockaden konstatieren musste („Wir singen keine jüdischen Lieder!“). Diese Erfahrungen fasste die Referentin in einer prägnanten Darstellung einerseits von Chancen und andererseits von Herausforderungen bzw. Schwierigkeiten solcher Projekte zusammen. Zum Abschluss ihres Beitrags spielte die Referentin einzelne Statements von Frauen aus ihrem internationalen Chor ein, die noch einmal eindrücklich die große Chance von Musik für interreligiöse und interkulturelle Verständigung bezeugten. Die Aufzeichnung des gesamten, im wahrsten Sinne des Wortes bewegenden Beitrags von Frau Chaoui findet sich hier.

In der Aussprache zu den beiden Beiträgen des Vormittags wurde einzelne, in den Vorträgen angesprochene Aspekte weiter vertieft. Folgenden Fragen standen dabei im Mittelpunkt: Wie kann die dynamische Musik aus der Missionsarbeit in anderen Kulturen stärker in die kirchliche Arbeit in Deutschland integriert werden?  Welche Fortbildungsangebote für interreligiöse Musik- und Chorprojekte gibt es in Deutschland bzw. NRW? In welchem Zusammenhang stehen dogmatische bzw. religionstheologische Voreinstellungen und interreligiöse Musikprojekte? Und inwiefern kann es durch solche Musikprojekte zu Öffnungen und Grenzüberschreitungen kommen, die solche Vorprägungen unterlaufen und verflüssigen können? Was die Fortbildungsangebote angeht, wurde auf vorhandene Kursangebote des Chorverbandes NRW und der Landesmusik-Akademie Heek verwiesen. Hinsichtlich des Verhältnisses interreligiöser Musik und religionstheologischer Voreinstellung verdeutlichte Frau Dr. Grüter noch einmal, wie man die von ihr vorgestellten Beispiele verschiedenen religionstheologischen Positionen wie zum Beispiel dem „mutualen Inklusivismus“ von Reinhold Bernhardt oder dem pluralistischen Ansatz, wie er zum Beispiel von INTR°A-Mitglied Perry Schmidt-Leukel vertreten wird, zuordnen kann. Insgesamt waren sich die Teilnehmer darin einig, dass die Musikprojekte zum einen die Kontroversen um die unterschiedlichen Positionen widerspiegeln und zum anderen zugleich wichtige Chancen bieten, solche Kontroversen zu überwinden bzw. besser auszuhalten.

Im dritten, kurzen Teil nach der Mittagspause erprobten die Referentin des Vormittags, Hayat Chaoui, und Bettina Strübel vom Festival Musica Sacra (Künstlerische Leitung) dann noch einige Lieder mit den Teilnehmer:innen, die zum Teil in dem von B.Strübel herausgegebenen „Interreligiösen Liederbuch“ (Trimum) zu finden sind. Bettina Strübel, die zugleich eine ebenso erfahrene Chorleiterin ist (Internationaler Chor in Frankfurt, Trimum) hatte sich spontan bereit erklärt diesen Part zusammen mit Frau Chaoui zu gestalten. Eine beeindruckende Erfahrung, die zugleich noch einmal die Parallelitäten einzelner Lieder in verschiedenen religiösen Traditionen (Mond-Lieder), aber auch auftretende Widerstände gegen „fremde“ bzw. negativ besetzte Traditionen deutlich machte.

An diesen Praxisteil schloss sich dann die Verleihung des diesjährigen INTR°A-Projektpreises an das interreligiöse „Musikfestival Musica Sacra International“ an.
Die berührende Laudatio von Marien van den Boom, die Danksagung seitens des Festivals und die Vorstellung dieses beeindruckenden Pionierprojektes haben wir an anderer Stelle auf unserer Homepage dokumentiert:

Laudatio und Preisverleihung 2022
Danksagung und Vorstellung des Festivals Musica Sacra

Die Preisverleihung wurde begleitet von Kostproben interreligiöser Musik zweier profilierter Ensembles, die eindrücklich und exemplarisch den Reichtum verschiedener Musiktradionen zu Ohren brachten:
Das Ensemble Barbad (Zoroastrische Musik)
Das Ensemble William (Christlich-orientalische Musik)

Die Beiträge beider Gruppen haben wir ebenfalls an anderer Stelle auf unserer Homepage dokumentiert:

Beitrag Ensemble Barbad
Beitrag Ensemble William

Zum Abschluss stellten die beiden Leiter der Tagung übereinstimmend fest, dass die Tagung einen wichtigen, eindrücklichen Beitrag dazu geleistet hat, die Bedeutung von Musik – überhaupt der ästhetischen Dimension – für die interreligiöse Verständigung intensiver bewusst zu machen. Dies war auch eine der wesentlichen Intentionen dieser Tagung in einem kleinen, aber engagierten Kreis.