Mein Leben in zwei Kulturen – Reisenotizen eines indischen Migranten

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Mein Leben in zwei Kulturen

REISENOTIZEN EINES INDISCHEN MIGRANTEN AM ABEND SEINES LANGEN LEBENSWEGS

Jose Punnamparambil 

Ich wurde vor 88 Jahren im südindischen Bundesstaat Kerala in eine christliche Familie geboren. Unser einfaches Haus stand in einem kleinen Dorf inmitten von Reisfeldern und Kokospalmen. Mein Vater bestritt den Lebensunterhalt mit der Landwirtschaft. Wir waren fünf Geschwister. Meine Mutter versorgte uns und den Haushalt. Ich wuchs umgeben von üppiger Vegetation auf, horchte dem Vogelgesang, dem Bellen der Hunde und betrachtete die bunten Schmetterlinge die durch den Vorgarten flatterten. Unser Leben war geprägt durch religiöse Feste. Am Heiligabend machte meine Mutter die traditionell dampfgegarten „Vatteppam“ Kuchen, die wir am Weihnachtsmorgen nach der Mitternachtsmesse aßen. In der Passionswoche vor Ostern kam eine Tante vorbei und rezitierte Verse aus dem Kapitel “Die Schmerzen der Muttergottes“ von dem Gesangbuch „Puthenpaana, verfasst in meiner Muttersprache Malayalam von dem deutschen Jesuiten Missionar Johann Ernst Hanxleden (bekannt in Kerala als Arnos Padiri), der von 1702 bis 1732 in Kerala lebte.

Ich war das erste Mitglied meiner Familie, das zur Universität ging und den Abschluss machte. Aber das war keine Qualifikation, die mir in meiner Heimat einen Job einbrachte. Also reiste ich im Jahre 1957 den weiten Weg in die Großstadt Mumbai (die damals noch Bombay genannt wurde) auf der Suche nach einer Arbeitsstelle. Es war ein riskantes Abenteuer für einen jungen Mann, der die zwanzig Jahre seines Lebens in einem einfachen ländlichen Umfeld verbracht hatte, sich nun ganz alleine in der großen Metropole eine Zukunft zu gestalten. Ich hatte eine Adresse in Bombay, wo ich mein Gepäck verwahren und die Toilette benutzen konnte, aber einen Schlafplatz für die Nacht gab es da nicht. So schlief ich die ersten beiden Nächte auf dem Bürgersteig einer Seitenstraße. Dann hat mich ein Freund eingesammelt und in seine Unterkunft mitgenommen. Danach nahmen die Umstände rasant Fahrt auf. Ich bekam einen kleinen Job als Sachbearbeiter und später dann einen größeren als Bereichsleiter. Aber dabei blieb es nicht lange. Neben der Arbeit gelang es mir irgendwie noch an der Bombay University einen Master Abschluss in englischer Literatur zu machen, und eine Stelle als College Dozent zu ergattern. Von dort aus machte ich im Jahr 1966 mit einem Stipendium des Bundespresseamtes der deutschen Regierung den großen Schritt in die BRD, um eine Ausbildung zum Journalisten zu machen. Seitdem lebe ich hier, verheiratet mit einer Krankenschwester aus meinem Heimatstaat Kerala. Wir haben zwei erwachsene Kinder- eine Tochter und einen Sohn.

Meinen beruflichen Weg begann ich als Journalist, dann wurde ich Sozialberater, dann Englischlehrer in der Erwachsenenbildung und schließlich Koordinator eines Sprachausbildungsprogramms für deutsche Fachkräfte in der Entwicklungszusammenarbeit in einem halb-staatlichen Trainingszentrum. In meiner Freizeit betrieb ich meine journalistische Tätigkeit weiterhin mit Leidenschaft und Ausdauer.

So habe ich die letzten 58 Jahre im Herzen Europas gelebt, in einem Land mit stets zunehmendem Wohlstand. Ich bin vollständig an das Leben hier angepasst, habe nahezu dieselben Bedürfnisse und Verhaltensweisen wie die der Deutschen. Heute weiß ich genau, was es bedeutet in einer hochentwickelten Gesellschaft zu leben. Vieles was ich in den letzten 58 Jahren erreicht habe erfüllt mich mit Stolz und Befriedigung. Ich kann heute die meisten materiellen Herausforderungen mühelos stemmen und ohne große Sorgen in die Zukunft schauen. Ich konnte viele meiner nahen Verwandten in Indien unterstützen und auch ein paar anderen Menschen aus meinem Dorf und anderswo her helfen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Ich genieße viele Freiheiten. Ich kann selbst Dinge erschaffen, auch in Zusammenarbeit und mit anderen teilen und unabhängige Entscheidungen treffen. Im Großen und Ganzen habe ich einigen Aufwand betrieben, um meine Lebensqualität und die meiner Nahestehenden und Lieben zu erhöhen.

Aber in bestimmten verwundbaren Momenten stiegen doch Zweifel in mir auf. Können wir uns wirklich darauf verlassen, dass die Bedingungen des Wohlstands, wie sie vom Westen her in alle Richtungen postuliert werden, die absoluten, die einzig wahren und gerechten sind? Welches Gewicht geben wir den Erfahrungen anderer Menschen auf der Welt, ihrem kulturellen Reichtum und ihren zivilisatorischen Beiträgen zum Leben auf diesem Planeten? In den vergangenen 58 Jahren bin ich in Europa einigen Bewegungen begegnet, habe neue Denkweisen und Ideologien kennengelernt. Manchen von ihnen habe ich mich angeschlossen, manchen gegenüber hatte ich Vorbehalte, und mit wieder anderen gar keine Übereinstimmung. Heute denke ich, es ist höchste Zeit, das Ausmaß an Konsum von Waren und Dienstleistungen drastisch einzuschränken. Weniger kann auch mal mehr sein. Menschen brauchen mehr Zeit für sich, Zeit für Kinder, Familie, Alte und Zeit für die Gesellschaft im weitesten Sinne, mehr Zeit für informelle Zusammenkunft, und sozialen und intellektuellen Austausch. Ich bin auch überzeugt, dass mit Entwicklung nicht nur ökonomisches Wachstum und technologischer Fortschritt gemeint sein kann. Auch nicht das Raffen von Wohlstand ohne Berücksichtigung der Bedürfnisse von schwachen und verwundbaren Teilen der eigenen Gesellschaft und der Gesellschaft anderer Länder und Völker.

Neuerdings vergleiche ich die christliche Weltanschauung mit jener der Hindus. In christlichen Gesellschaften im Westen sammeln wir Punkte durch ein hingebungsvolles Leben in religiöser Praxis, und/oder im Dienst eines rechtschaffenen und tugendhaften Lebens. Wir versuchen uns streng an den Verhaltenskodex zu halten, der solidarisch und friedlich von Generation zu Generation weiter gereicht wird, gerecht und in Mitgefühl mit den Bedingungen mitmenschlichen Handelns. Je höher wir auf dieser Skala der Tugendhaftigkeit steigen, um so grösser sind unsere Chancen auf Erlösung, oder umso eher treten wir in das Paradies ein.

Dieser positive Ausblick auf das Lebensziel erstreckt sich zwangsläufig auch auf die materielle Ebene auf der wir unser Leben im Westen gestalten. Wir sammeln so manches im Leben an und versuchen über die natürlichen Grenzen hinauszugehen. Wir erweitern und bereichern unsere Erfahrungswelten und Anschauungen. Mit der Hilfe von Innovationen und technischen Erfindungen verbessern wir stetig unsere Lebensqualität. Unser Ziel ist es immer mehr zu besitzen in besserer Qualität und mit vielfältigeren Optionen. Die Leidenschaft für Perfektion und die bessere Organisation unserer materiellen Welt arbeitet sich wie eine Suchterkrankung an uns ab.

Die kulturelle Tradition der Hindus hingegen setzt die Tugend des Verzichts als treibende Kraft für jene ein, die nach Erlösung streben. Der Weg zur Erlösung beginnt bei der Erkenntnis und Kapitulation vor der Tatsache, dass unsere materielle Welt im Grunde eine illusorische Vorstellung ist. Die Realität ist die Summe zahlloser Illusionen. Selbst was wir für Wahrheit halten, ist die Teilnahme an einer Vorstellung. Nichts im Leben ist von Bestand, und alles geht in einander über. Was wir als verbürgt betrachten, ist Gegenstand beständigen Wandels. Wir können darum nicht wirklich an etwas anhaften, nicht an Besitztümern, noch an Erfahrungen und Glückseligkeiten, oder an materiellen und geistigen Leistungen. Echte Weisheit verlangt die Annahme dieser einzigen Wahrheit. Auf der Reise durch die verschiedenen Stadien des Lebens – die Kindheit, Jugend, Familienleben, usw. – kommen wir dieser Wahrheit immer näher. Als logische Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis gilt der Rückzug aus dem aktiven Leben und die Aufgabe der weltlichen Besitztümer. Auf dem Pfad von Selbstaufgabe und Askese kehren wir zu unserem Ursprung zurück, zur Leere zu Anbeginn, wo das „Sein“ mit dem „Nicht-Sein“ verwechselbar wird. Bei unserer Ankunft dort öffnet sich der Raum der Erlösung.

Aus dem, was gesagt wurde, wird klar, dass die Ziele beider Kulturen in etwa übereinstimmen – es geht um Erlösung. Doch die Wege dorthin sind radikal verschieden. Der westliche Ansatz hat eine positive Nachricht, die uns zum Handeln ermuntert. Das enorme Zutrauen in die Kapazität der Menschen, seine Beschränkungen und Schwächen zu überwinden und daraus Erlösung zu schöpfen, ist im Westen unerschütterlich. Die Lebensumstände des Menschen müssen nicht hingenommen werden, sondern gelten als Herausforderungen.

Der Ansatz des Hinduismus erscheint genau gegensätzlich. Von der Stunde unserer Geburt an akzeptieren wir ohne zu protestieren unsere Lebensumstände und erkennen nur allzu bald die Vergeblichkeit großer Vorhaben und Handlungen. Langsam, Schritt für Schritt, gelangen wir zu dem Schluss, dass Glück aus weltlichem Ursprung bloß eine Falle ist, so dass es keinen Sinn macht, materielle Güter anzuhäufen.

Ich denke, nach meiner langen Reise mit beiden Kulturen finde ich mein Zuhause unter dem Einfluss beider Anschauungen wieder. Wie also beschreibe ich am Abend eines langen Migrantenlebens meine geistige Verfassung? Ich bin erfüllt von unermesslicher Dankbarkeit: für alle Gelegenheiten, die ich im Westen bekommen habe zu wachsen und mein Können zu entfalten. Für die vielen ehrlichen Freundschaften, für die Gelegenheit schöpferisch zu sein und viele meiner Ideen verwirklichen zu können. Für die Sicherheit die mein Job und mein soziales Netzwerk mir gegeben haben, was mir ein reichlich bequemes Leben ohne große Existenzängste ermöglichte. Gleichwohl sagt mein Gefühl mir nachdrücklich, dass wir im Westen vom Pfad des Überflusses, der hier rastlos beschritten wird, abkommen müssen. Wir müssen nach anderen Modellen suchen, um durch ein Zusammenwirken von Werten und Normen Qualität in unserem Leben zu verankern. Soziale Gleichheit, Ökologie und Nachhaltigkeit sollen im Mittelpunkt unserer Entwicklungsziele stehen. Ich wünsche mir ein System, das verschwenderischen Konsum, und die Ausbeutung der Armen und Verwundbaren abweist. Es ist nicht wahr, dass Glück allein von materiellem Besitz und der Unterdrückung der Schwachen in der Gemeinschaft gewonnen wird. Am Ende meiner langen Reise auf dem erstaunlichen Weg des Wohlstands neige ich dazu, zu sagen: Einfachheit, Bescheidenheit und eine tiefe Hochachtung vor der Natur, wie wir sie in der indischen Tradition vorfinden, können für das Leben seltene Schätze bereithalten, die unter den geltenden, heiß aufgetischten Freuden der heutigen hochtechnisierten, entmenschlichten Lebensweisen des Westens ihresgleichen suchen.

(Aus dem Englischen ins Deutsch von Asok Punnamparambil)